Dieter Seitz (rechts) hält an den Stationen der gut vorbereiteten Exkursion auch viele Hintergrundinformationen bereit. Foto: Ute Gruber
Von Ute Gruber
Murrhardt. In der kurzen Zeitungsnotiz war ein anderthalbstündiger Spaziergang mit dem Revierleiter durch den Murrhardter Stadtwald angekündigt. So mancher hatte sich wohl auf einen gemütlichen Sonntagmorgenausflug eingestellt und ist nun überrascht, als es drei Stunden am steilen Murrhardter Hausberg auf und ab geht. Und dennoch: Keiner nimmt das Angebot wahr, nach der Hälfte der Tour zum Parkplatz zurückzukehren – zu spannend sind die Ausführungen von Dieter Seitz (63), der seit fast 40 Jahren mit diesem Wald vertraut ist und ihn maßgeblich mitgestaltet hat.
Weit holt der Förster aus und teilt die prägenden Veränderungen des hiesigen Waldes seit der letzten Eiszeit in Phasen ein, die sich – durch Menschenhand – exponentiell beschleunigen: „Vor rund 20000 Jahren entstand im kühlfeuchten Klima nach der Würmeiszeit ein dunkler, dichter Wald, der von wasserliebenden Rotbuchen und Weißtannen dominiert wurde.“ Vor 2000 Jahren seien dann die Römer aufgetaucht, hätten zunehmend Flächen gerodet, Siedlungen und eine breite Schneise für den Hunderte Kilometer langen Limes angelegt. In all diesen Lichtungen fasste dann auch die lichthungrige Eiche Fuß. Vom Mittelalter bis vor rund 200 Jahren wurde der Wald von der wachsenden Bevölkerung ausgeräumt. Gerade in den öffentlichen Allmendewäldern wie am Linderst wurde jedes Zweiglein fürs heimische Herdfeuer aufgelesen, Schweine und Ziegen wurden in den Wald getrieben, um sich an Eicheln und Bucheckern zu mästen und die kleinen Schösslinge abzunagen, und sogar das Laub wurde als Stalleinstreu zusammengerecht und fortgetragen. „Das war ein richtiger Raubbau, eine Devastierung“, beschreibt Waldliebhaber Seitz den damaligen Zustand, in dem nur noch einzelne alte Bäume auf einem ausgemosteten Boden übrig blieben.
Energiehunger und Nachhaltigkeit
Vor knapp 200 Jahren, mit dem ungeheuren Energiebedarf der beginnenden Industrialisierung, setzte ein Umdenken in Richtung Nachhaltigkeit ein: „Seitdem wird nicht nur geerntet, sondern auch in gleichem Umfang gepflanzt.“ Und von dort an kommt die Fichte neu ins Spiel. Der Flachwurzler aus dem Gebirge, der sich unter den günstigen Bedingungen der deutschen Mittelgebirge zum Brotbaum schlechthin entwickelt, hat 1882 schon 60 Prozent der Waldfläche bedeckt: schnellwüchsig und verbissresistent liefert die Fichte in wenigen Jahrzehnten ein leichtes, langfaseriges Holz, das sich für viele Zwecke eignet. Nur leider ist sie eben als Flachwurzler hochempfindlich gegen Hitze und Trockenheit. Und dies rächt sich nun in den letzten 20 Jahren mit den heißesten und trockensten Sommer seit Beginn der Wetteraufzeichnungen, was die Fichten enorm stresst und reihenweise zu Schädlingsopfern werden lässt. In den letzten zwei Jahren kommt fatalerweise nun auch das über Jahrtausende bewährte Dream-Team aus Buche und Tanne dazu. „Klimaveränderungen, die sonst Jahrtausende brauchten, laufen jetzt in wenigen Jahren ab.“
„Der Wald wird sich deutlich verändern“, stellt Seitz mit Blick auf die Tendenz zu trockenen Hitzesommern fest und erläutert an verschiedenen Stationen in seinem grünen Wohnzimmer, wie man ihn dabei unterstützen kann: „Je vielfältiger der Bestand ist, umso besser ist er gewappnet für die Zukunft. Und dies gilt nicht nur für verschiedene Baumarten, sondern auch verschiedene Altersklassen.“ Kahlhieb und komplette Neuaufforstung – zumal mit einer Monokultur – sind also passé, vielmehr werden nach einem Hieb vorhandene jüngere Bäume explizit belassen, „zum Beispiel trotz allem auch die zwei Fichten hier, denn die geben erst mal Sonnenschutz für die Jungpflanzen, die wir setzen“. Selbige bekommen eine helle Schutzhülle verpasst – nicht nur als Schutz vor Fraß durch Rehe, sondern auch vor direktem Sonnenlicht und übermäßiger Transpiration. In einer feuchten Rinne, wo die Leute früher Letten (Ton) für die Ziegelei abgegraben haben, ist schon ein zukunftsfähiger Spitzahorn von alleine aufgegangen, „aber für den Anflug von Eichen fehlt hier ein Samenbaum“. Also werden einige Roteichen gesetzt, denn von diesem tiefwurzelnden, trockenverträglichen Laubbaum verspricht man sich viel. Gute Chancen werden auch Douglasie, Elsbeere, Esskastanie, Tulpenbaum oder Baumhasel eingeräumt, jedoch müssen diese – wie auch die Eichen – jahrelang freigehalten werden, um nicht unter zu dichtem, schattentolerantem Tannenanflug zu ersticken. „Der Wald wird lichter werden, weniger Wasser – weniger Bäume.“ Dafür müsse aber der Boden beschattet werden, zum Beispiel durch Laub und Reisig, „auch wenn das vielleicht unaufgeräumt aussieht“.
An jeder Station spannt der Förster eine Schnur, an der er mit Wäscheklammern wasserfest laminierte Schaubilder befestigt. Diese erläutern anschaulich die wissenschaftlichen Hintergründe des Erklärten: Karten vom Temperaturverlauf, von der Bodenfeuchteverteilung der letzten Jahre zum Beispiel, von der Zusammensetzung der Waldbestände und deren Vulnerabilität, sprich deren Verletzlichkeit bei den erwarteten Hitzewellen. „Was sich von den vielen Baumarten bewährt, wird die Natur selber ausselektieren“, hofft der Waldgestalter. „Alle zehn Jahre wird ja eine Bestandsaufnahme gemacht und ein neuer Forstplan aufgestellt.“ Für die nächsten 20 bis 30 Jahre peilt er eine Abnahme auf je 20 Prozent bei Tanne, Fichte und Rotbuche in den Murrhardter Wäldern an und eine Steigerung von Douglasie auf ebenfalls 20 Prozent. Eichen sollen auf bis zu zehn Prozent zunehmen, den Restbestand bilden seltenere Arten. „So bleibt immer noch genug Wirtschaftsholz für eine rentable Waldpflege.“ Auch der Umtrieb soll kürzer werden: statt 160 Jahre langfristig auf nur noch 100 Jahre Standzeit der Bäume in den 950 Hektaren des Murrhardter Stadtwalds zum Beispiel. Auf die kritische Frage nach Habitatbäumen bei dieser kurzlebigen Art der Waldwirtschaft, also nach alten Wohnbäumen für Tiere des Waldes, führt Seitz die Gruppe zu einer ebenen Fläche auf der Kuppe des Bergs. Hier, auf diesem masten Boden einer ehemaligen Wiese, hatte vor gut 30 Jahren der Jahrhundertsturm Wiebke den kompletten Fichtenbestand umgelegt. Mit der freiwilligen Hilfe vieler Murrhardter wurde hier nach dem Aufräumen ein Bürgerwald aus vielen verschiedenen Baumarten neu angelegt – nicht nur wie geplant sturmresistent, sondern jetzt auch unerwartet klimaangepasst. Eine größere Gruppe von Bäumen hat der Förster mit Farbe markiert: „An diesen wird nichts gemacht, die bleiben bewusst so stehen für die Tiere.“
Eine vielleicht 1000 Jahre alte Eiche
Ganz zuletzt gibt es für die rund 30 Naturfreunde, darunter drei Waldbesitzer, eine Erzieherin aus dem Waldkindergarten und mehrere Hundebesitzer, ein besonderes Highlight, zu dem selbst die weniger sportlichen unter ihnen die am Hang vom Revierleiter fürsorglich extra angelegten Trittstufen erklimmen: eine uralte, anderthalb Meter dicke, schräg hängende Eiche. Ein Methusalem von vielleicht 1000 Jahren, wie der Fachmann schätzt. Ehrfürchtig legt man den Kopf in den Nacken und schaut den grün bemoosten Stamm hinauf zu den knorrig verdrehten Ästen. Ob sie vielleicht ein Heiligtum war, dass sie nie gefällt wurde? „Also die würd ich auch stehen lassen“, lacht da einer der Praktiker, „die würd ich weder umsägen wollen noch hier rausschleifen noch spalten müssen!“ Manchmal hat Naturschutz halt auch ganz praktische Gründe.