Vor zehn Jahren bebte in Nepal die Erde, viele Menschen starben, viele wurden versehrt. Jetzt droht den Menschen eine neue Katastrophe: Das Versiegen der Hilfe von USAID trifft die mit voller Wucht, die mit aller Kraft tapfer für ein Leben in Würde kämpfen.
Der Sportler Ramesh verlor durch das Beben seine Beine.
Von Till Mayer
Der Tag beginnt vielversprechend. Ramesh hat sich eine Gitarre gekauft. Von dem kleinen Gehalt, das sich der junge Mann in einer der vielen Pensionen von Kathmandu verdient. Heute hat er frei, sitzt mit einem Freund zusammen. Die beiden singen, haben sich ein Mittagessen vorbereitet. Die kleine Tochter der Pensionswirtin hört staunend zu. Ein schöner, gemütlicher Vormittag. Der ein jähes Ende findet. Die Erde bebt. Um 11.56 Uhr, Ortszeit, am 25. April 2015.
„Das Haus fiel einfach in sich zusammen“, sagt der heute 27-Jährige. Zwölf Stunden liegt er unter den Trümmern, bevor Ramesh bewusstlos geborgen wird. Als er drei Tage später erwacht, sind seine beiden Beine amputiert. Sein Freund ist nicht mehr am Leben. Auch das Mädchen, die Pensionswirtin und ihre Familie nicht. Sie zählen zu den 9000 Menschen, die bei der Katastrophe und dem schweren Nachbeben am 12. Mai 2015 starben, Ramesh zu den 22 000, die schwer verletzt wurden.
Zehn Jahre nach dem Beben geht es für Ramesh Tag für Tag um das Grundlegendste, ums Überleben. Er sitzt in einem Rollstuhl mit abgefahrenen Reifen, hinter ihm das Orthopädie-Zentrum, das Ramesh seine Prothesen angepasst hat. Rund 1000 Menschen, die das Beben mit einer Behinderung überlebten, fanden hier Unterstützung. Die Einrichtung ist bis heute für viele Erdbebenüberlebende wichtig – für die Reparatur ihrer Prothesen oder eine Neuanfertigung.
Zehn Jahre nach dem Beben ereilt die Betroffenen eine neue Katastrophe: Elon Musk zertrümmert in den Vereinigten Staaten die Entwicklungsbehörde USAID. Weltweit werden Hilfsprojekte eingestellt. Bislang ist die USAID die größte staatliche Geber-Organisation weltweit. Auch das Orthopädie-Zentrum der nepalesischen Organistion für Menschen mit Behinderungen, der National Disabled Fund, in Kathmandu ist betroffen. Über das undichte Ziegeldach ist eine Plane gespannt. Ram Bahadur Thapa blickt zur Zimmerdecke. „Stürmt es, drückt es trotz der Plane Wasser durch das Dach“, erklärt der 42-jährige Abteilungsleiter. Geld für eine Neueindeckung fehlt.
Doch das ist nicht seine größte Sorge. Zahlreiche der Maschinen zur Prothesenherstellung wurden durch USAID in Zusammenarbeit mit der Hilfsorganisation Handicap International finanziert. „Aber die Maschinen müssen gewartet und repariert werden. Für eine Reparatur muss ein Spezialist aus Indien eingeflogen werden. Wir wissen nicht, wie wir das finanzieren sollen, sobald es soweit ist“, erklärt der Leiter der Prothesenherstellung. Das drängendste Problem ist jedoch die Beschaffung der Kunststoffe für die Prothesen. „Uns fehlen die Mittel, ausreichend Material einzukaufen. Von staatlicher Seite gibt es eine Unterstützung. Doch bei weitem nicht ausreichend. Uns fehlen die Zuschüsse von USAID“, fügt der 42-Jährige hinzu. Auch der Präsident des National Disabled Funds ist zum Interview dazugekommen. „Es geht nicht, dass so mit dem Leben von Menschen gespielt wird. Ihnen wurde Hilfe versprochen. Und jetzt …“, sagt er leise.
Ramesh kennt jeder vom Personal des Ortho-Zentrums. „Er ist ein Vorbild für uns alle“, sagt Ram Bahadur Thapa. Ramesh ist Mitglied der nepalesischen Nationalmannschaft für Menschen mit Beeinträchtigungen. Als Schwimmer, im Marathon oder Basketball. „Sein Lebensmut, seine Stärke, sie sind beeindruckend. Er gibt uns allen Mut. Gerade jetzt“, sagt der 42-Jährige.
Derweil macht sich Ramesh auf den Heimweg. Gut drei Kilometer sind es. Eigentlich hat Ramesh einen betagten Moped-Scooter. Aber Benzin ist teuer. So fährt er im Rollstuhl, wann immer es geht. Gelegentlich etwas waghalsig, wenn er sich auf staubigem Asphalt durch Auto-Reihen schlängelt, zwischen Bussen und Trucks die Lücke nutzt, sich seinen Weg durch schwarze Abgaswolken der Mehrtonner bahnt.
Das Zuhause des jungen Mann ist ein einfacher, kleiner Raum. Nackter Betonboden, ein Bett, ein Tischchen vor dem Fenster mit Vorhang. Auf dem Tisch reihen sich Pokale aneinander, an der Wand hängen Medaillen. Es sind viele. Ramesh trat bei internationalen Turnieren in Japan, Indonesien und Singapur an. „Nach dem Beben, als ich plötzlich ein Menschen ohne Beine war, da gab es nur einen gewaltigen Schock. Ich wollte nicht, dass meine Familie erfährt, was mit mir geschehen war“, sagt Ramesh leise im Dämmerlicht seines Zimmers. Dank der Hilfsorganisation Handicap International bekommt er damals auch psychotherapeutische Unterstützung. „Das war wichtig für mich. Ich musste erst wieder Mut finden. Mein Leben als Mensch mit einer Behinderung anerkennen.“Das Training, die damit verbunden Disziplin, hilft dem versehrten Sportler.
Als Athlet verdient er ein wenig Geld mit Preisgeldern und Sponsoring für ein bescheidenes Leben. Ramesh studiert Informatik. Er hofft, seinen Bachelor abzulegen. Den Studiengang will er in drei Jahren absolvieren. „Hätte ich einen eigenen Laptop, könnte ich online ein bisschen hinzuverdienen. Ganz abgesehen davon, dass ich einen Computer für mein Studium bestens brauchen könnte.“ Aber die umgerechnet 350 Euro für einen gebrauchten Laptop sind unbezahlbar für ihn.
Selbst zum Trainieren fehlt das Geld. „Den Eintritt für den Swimmingpool, ich kann ihn mir selten leisten. Das ist bitter.“ Und wenn sein Sport-Rolli für die Turniere eine Überholung braucht? „Ich hoffe, das wird weiter gesponsert.“
Zigtausende Helfer haben nach dem Aus von USAID weltweit ihren Job verloren. Zahlreiche Projekte wurden ersatzlos gestrichen. USAID gab im vergangenen Haushaltsjahr 21,7 Milliarden US-Dollar aus, also 0,3 Prozent der gesamten US-Bundesausgaben.
2022 noch hatten Vertreter von USAID und des Staates Nepal einen Entwicklungsplan für fünf Jahre aufgelegt. Die Höhe der Unterstützung sollte sich auf 659 Millionen Dollar belaufen. Quasi über Nacht wurden die Mittel gestrichen. Hoffnungen ruhen unter anderem auf der Europäischen Union und bilateral auf Deutschland. Doch mit dem russischen Angriff auf die Ukraine hat Europa einen brutalen Krieg auf dem eigenen Kontinent. Dass die Europäische Union die Lücke füllen kann, darauf hofft kaum jemand.
Pauline Falipou ist in der Zentrale der Hilfsorganisation Handicap International - Humanity & Inclusion in Lyon eine der federführenden Spezialistinnen bei Katastropheneinsätzen. 2015 leitete sie auch den Nepal-Einsatz der internationalen Hilfsorganisation, die auch in Deutschland ansässig ist. „Beispielsweise durch den Klimawandel nehmen die Katastrophen weltweit zu. Vorsorge zu treffen, ist wichtig. Bereit für eine Katastrophe zu sein, rettet Menschenleben“, erklärt sie. Die Lücke, die USAID hinterlässt, sei gewaltig. Unter den Mitarbeitern von Hilfsorganisationen besteht die Furcht, dass weltweit die Unterstützung für Entwicklungs- und Katastrophenschutzprojekte generell sinkt. „Das wäre schmerzhaft. In Nepal konnten wir mit unseren Partnern nach dem Beben viel für den Katastrophenschutz bewirken. Falls es zu einem neuen Beben kommt, sind die Menschen nun besser vorbereitet. Schlimm, wenn weltweit hierfür Gelder fehlen“, so Pauline Falipou.
Rund eineinhalb Flugstunden von Kathmandu entfernt wohnt in einem kleinen Dorf Pipalbote Tole Buhabar Jhapa im Tiefland der neunjährige Prabin. Der Junge trägt unterhalb des Knies eine Prothese und gehört zu den besten Kickern in seiner Klasse. Sein Fußballtalent führt er mit seinem gleichaltrigen Kumpel aus der Nachbarschaft vor. Die beiden liefern sich auf der staubigen Dorfstraße einem Zweikampf.
„Dank seiner Prothese kann er mit den anderen Kindern spielen“, sagt seine Mutter. Handicap International-Mitarbeiterin Ambika Sharma ist an diesem Tag zu Besuch bei der Familie. Sie ist Mitarbeiterin des Orthopädie-Zentrums von Biratnagar, einer Einrichtung von Handicap International. Doch auch dort fehlen die Mittel, seit die Unterstützung von USAID ausbleibt. „Ich möchte mir gar nicht vorstellen, was passiert, wenn wir am Ende des Jahres eine neue Prothese für Prabit brauchen oder die bestehende an sein Wachstum anpassen. Im Moment können wir das nicht finanzieren“, sagt die Helferin. Für Prabin wäre es furchtbar, mit Krücken zur Schule zu gehen, anstatt dem Ball nachzujagen. Würde der Athlet Ramesh davon wissen, würde es ihn wohl schmerzen.