Bei der Protestkundgebung haben die Auszubildenden ihre Befürchtungen in Szene gesetzt: Sie kamen in Schwarz gekleidet mit einem Sarg und haben die Ausbildung symbolisch zu Grabe getragen. Foto: J. Fiedler
Von Christine Schick
Murrhardt. Freitagmittag, 12.05 Uhr, strömen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Bosch-Standorts in Murrhardt auf den gegenüberliegenden Parkplatz des Werks. Die Produktion ist verwaist, die Beschäftigten der Spätschicht haben überwiegend freigenommen. Zur Protestkundgebung mit dem Betriebsrat, der IG Metall Waiblingen/ Ludwigsburg sowie weiteren Abordnungen der Gewerkschaft versammeln sich über 200 Menschen. Auch Vertreterinnen und Vertreter aus der lokalen und überregionalen Politik sind gekommen. „Erst geht die Montage, dann die Fertigung, danach der Rest. Nicht mit uns!“ oder „Zukunft gestalten, Stellen erhalten“ ist auf Plakaten zu lesen. Ein Mann, in Schwarz gekleidet, hat sich die Frage auf den Zylinder geheftet: „Wer und wo sind die Totengräber?“ Dann marschiert eine Gruppe junger Leute mit einem Sarg zum Treffpunkt. Es sind die Bosch-Azubis, die die Ausbildung symbolisch zu Grabe tragen. Jemand sagt: „Da muss ich an Conti denken.“ Es ist klar: Die Angst um den Bosch-Standort in Murrhardt geht um.
In der Einladung der Arbeitnehmervertretung ist zunächst von 70 Stellen die Rede, die beim Murrhardter Bosch-Werk wegfallen könnten, der Konzern dagegen nennt in einem Pressestatement eine höhere Zahl, nämlich bis zu 160 Arbeitsplätze. Später erklären Arbeitnehmervertreter und Gewerkschaft, dass beides richtig ist, auch mit der komplizierten Verzahnung der beiden Geschäftsbereiche Rexroth und Power Tools am Standort zu tun hat, sie letztlich aber tiefgreifendere Konsequenzen und die Existenz des Werks gefährdet sehen.
Es steht der Plan des Rexroth-Managements im Raum, bis 2025 die komplette Montage der industriellen Schraubtechnik, die in diesem Geschäftsfeld als Produkt angesiedelt ist, an einen osteuropäischen Standort zu verlagern. „Aus Sicht der Arbeitnehmervertretung ein Skandal“, so die IG Metall. Die beiden Seiten verhandeln schon seit April 2021. Als Hintergrund nennt der Konzern, dass der Standort Murrhardt mit seinem Werk für Elektrowerkzeuge für Nischenmärkte (Power Tools) und Erzeugnisse für industrielle Schraubtechnik (Rexroth) seit mehreren Jahren unter einem hohen Preis- und Kostendruck stehe. Auf dem Markt für die Produkte herrsche ein starker Wettbewerb und die Grundauslastung sei seit Jahren rückläufig. Die Pläne sähen vor, dass sich das Werk auf die Fertigung und Montage von Elektrowerkzeugen sowie auf die Teilefertigung für industrielle Schraubtechnik konzentrieren, die Montage aber in Osteuropa erfolgen soll, sprich die Arbeitsplätze dorthin verlagert werden. Nach Entwurf des Neuausrichtungsplans „könnten bis zu 160 Stellen betroffen sein“.
Bei der Protestkundgebung melden sich einige zu Wort, die mal ihre Enttäuschung, mal ihren Kampfgeist oder ihre Solidarität betonen. Jürgen Voag, Betriebsratsvorsitzender von Bosch Power Tools in Murrhardt und zweiter ehrenamtlicher Bevollmächtigter der IG Metall Waiblingen, spricht von einem „Rieseneinschnitt“. Für ihn dürfe es keine betriebsbedingten Kündigungen geben, er erwarte, dass auf neue zukunftsfähige Produkte gesetzt werde. Die Verlagerung hätte auch Konsequenzen für Power Tools, da dieser Geschäftsbereich als Dienstleister für Rexroth die Montage macht. „Rund 20 Prozent wären betroffen.“ Natürlich könne man nicht mit den Löhnen in Osteuropa konkurrieren, aber bei den Produkten des Standorts mache man rund sieben Prozent Gewinn. Zudem fordert Voag, dass die geschätzten Kosten für die Verlagerung genauer aufzuschlüsseln sind.
Betriebsrat und IG Metall setzen sichfür ein Moratorium ein
Der Vorschlag sei nun, ein Moratorium zu vereinbaren, sprich von der Verlagerung Abstand zu nehmen und die Entscheidungen auf eine bestimmte Zeit zu vertagen. „Die Verlagerung machen wir nicht mit“, sagt Voag. „Es gibt noch keinen Beschluss bis jetzt. Wir brauchen eine Lösung und keinen Streit.“ Aber Rexroth provoziere ihn.
Unterstützung gab es von politischer Seite. Grünen-Bundestagsabgeordnete Ricarda Lang wendet sich insbesondere an die Auszubildenden, die sich am Standort für eine Perspektive einsetzten. Natürlich stehe man vor einer riesigen Transformation. Dies heiße, mit Blick auf die Natur die Lebensgrundlagen zu erhalten, aber auch die Arbeitsplätze. „Eine gute Transformation gibt es nur an der Seite der Beschäftigten“, sagt sie. Ihr Parteigenosse, Landtagsabgeordneter Ralf Nentwich, stellt fest: „Ich möchte die Argumente der Geschäftsführung nicht im Detail bewerten. Eine Verlagerung von Produktionsteilen – nur aus Personalkostensicht und zu wenig Rendite – ist meiner Meinung nach viel zu kurz gegriffen. Das ist nicht Bosch-like. Und gerade unter dem Gesichtspunkt der derzeitigen Lieferkettenprobleme und der veränderten globalen Situation müssen wir Kernkompetenzen im Land halten und nicht ins Ausland verlagern.“ SPD-Landtagsabgeordneter Gernot Gruber, der verhindert war, teilt später mit, er sei über die Meldung zum geplanten Abbau von bis zu 160 Arbeitsplätzen erschrocken. Er habe den neuen Bosch-Geschäftsführer Stefan Hartung angeschrieben mit der Bitte, die Arbeitsplätze in Murrhardt und den Standort zu sichern.
In einem anschließenden Gespräch unterstreichen Betroffene und Arbeitnehmervertreter nochmals, wie wichtig es aus ihrer Sicht ist, von der Verlagerung Abstand zu nehmen. „Jeder Mitarbeiter, der geht, auch wenn dies in einer sozialverträglichen Form geschieht, bedeutet den Verlust eines Arbeitsplatzes“, sagt Jürgen Voag. Und wenn das Produkt – industrielle Schraubtechnik – erst einmal andernorts hergestellt werde, falle beispielsweise auch der Vertrieb weg. „Ein Service und eine Reparatur von Produkten hier macht dann auch keinen Sinn mehr, das wäre ja wieder teurer“, ergänzte sein Kollege Thomas Hermann. Die verbliebenen Entwickler würden möglicherweise abgezogen, irgendwann sei der Standort nicht mehr rentabel. Matthias Fuchs, Geschäftsführer der IG Metall Waiblingen/ Ludwigsburg, macht deutlich, dass er den Fokus vor allem auf konstruktive Gespräche lenken möchte und die Energie in die Entwicklung zukunftsfähiger Produkte und Lösungen stecken würde. Hinzu kommt: „Keiner weiß, wie sich die Lage in Osteuropa weiterentwickelt“, sagt er mit Blick auf den Krieg in der Ukraine.
Letzteres gibt auch Bürgermeister Armin Mößner zu bedenken. „Bosch ist der mit Abstand größte Arbeitgeber in Murrhardt. In den vergangenen Jahren hat das Unternehmen auch immer wieder die Verantwortung fürs obere Murrtal in dieser Hinsicht betont“, sagte er. An den 440 Arbeitsplätzen hingen ja weit mehr Existenzen, das drei- bis fünffache an Personen, und viele Familien. Auch er setze darauf, dem Standort jetzt noch Zeit zu geben und gute Lösungen zu erarbeiten. Die Boschler hätten sich immer durch gute Ideen und tatkräftigen Einsatz ausgezeichnet.
Diese Hoffnung hat auch Jürgen Voag. Wenn die Betriebsratswahlen in der kommenden Woche stattgefunden haben, müsse man sich neu formieren, sei dann wieder für Gespräche bereit. „Wir lieben unseren Standort und wir kämpfen um unseren Standort“, unterstreicht er. Wann eine Entscheidung falle, sei offen. Es könne im April sein, in diesem Jahr müsse man auf jeden Fall noch damit rechnen.
Die zwei Geschäftsbereiche Am Bosch-Standort in Murrhardt sind die beiden Geschäftsbereiche Power Tools und Rexroth angesiedelt. Dort sind rund 440 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter tätig. Für Bosch Power Tools werden Hochfrequenz-, Druckluft- und Akku-Industriewerkzeuge gefertigt sowie Werkzeuge in kleineren Serien für Nischenanwendungen im gewerblichen Einsatzbereich. Zudem wird am Standort Schraubtechnik für Bosch Rexroth entwickelt, gefertigt und vertrieben. Bei Rexroth arbeiten zurzeit rund 100, bei Power Tools rund 340 Beschäftigte. Letztere sind als Dienstleister auch für Rexroth tätig, weshalb sie die Verlagerung ebenso betreffen würde.