Tiefseeforschung im Atlantik

Forscher filmen erstmals lebenden Koloss-Kalmar

Das Tier galt bisher als Phantom. Im Jahr 1925 konnte es anhand von Überresten in einem Pottwal identifiziert werden.

Forscher filmen erstmals lebenden Koloss-Kalmar

Das etwa 30 Zentimeter lange Jungtier wurde in 600 Metern Tiefe gefilmt.

Von Barbara Barkhausen

Ein Jahrhundert nach seiner wissenschaftlichen Beschreibung ist es Forschenden gelungen, einen Koloss-Kalmar (Mesonychoteuthis hamiltoni) lebend in seiner natürlichen Umgebung zu filmen. Das Video zeigt ein 30 Zentimeter langes Jungtier in 600 Metern Tiefe nahe der Südlichen Sandwichinseln im Südatlantik – ein Meilenstein in der Tiefseeforschung.

Ausgewachsene Exemplare werden bis zu sieben Meter lang

Der Koloss-Kalmar gehört zur Familie der Glas-Kalmare (Cranchiidae) und gilt als das schwerste wirbellose Tier der Erde. Erwachsene Exemplare können bis zu sieben Meter lang werden und ein Gewicht von 500 Kilogramm erreichen. Dennoch war über das Leben der gigantischen Kopffüßer bisher kaum etwas bekannt – die meisten Erkenntnisse stammten aus Mageninhalten von Pottwalen oder aus den Resten gefangener Fische.

Das nun veröffentlichte Video wurde Anfang März von einem internationalen Team an Bord des Forschungsschiffs R/V Falkor (too) aufgenommen, betrieben vom Schmidt Ocean Institute. Mit dem ferngesteuerten Unterwasserfahrzeug (ROV) SuBastian konnten sie das Jungtier in seinem Lebensraum dokumentieren. Die Sichtung fand im Rahmen einer Ocean-Census-Expedition statt – einem internationalen Projekt zur Entdeckung neuer Meereslebewesen.

„Es ist aufregend, die ersten Aufnahmen eines jungen Koloss-Kalmars zu sehen – und es macht einen ehrfürchtig, sich vorzustellen, dass diese Tiere keine Ahnung von der Existenz der Menschen haben“, sagte Kat Bolstad, Tiefsee-Expertin und Professorin an der Auckland University of Technology, die zur Verifizierung der Aufnahmen hinzugezogen wurde. „Seit 100 Jahren begegnen wir ihnen hauptsächlich als Beutereste in Walmägen oder als Räuber von Antarktisdorschen.“

Die Aufnahmen des Jungtiers zeigen ein fast durchsichtiges Wesen mit in Regenbogenfarben schillernden Augen und eleganten, fächerförmig ausgestreckten Armen – ein Bild, das so gar nicht zu den Darstellungen des Koloss-Kalmars als „Monster der Tiefe“ passt. „Dieser Koloss-Kalmar sieht eher aus wie eine filigrane Glasskulptur“, schrieb Bolstad in einem Aufsatz zu dem Fund. Mit zunehmendem Alter verlieren die Tiere vermutlich ihr transparentes Aussehen und sind so innerhalb der Glas-Kalmar-Familie eine Ausnahmeerscheinung. So filigran der gefilmte Koloss-Kalmar aussieht, in voller Größe sei er dann ein durchaus „beeindruckender Jäger“, wie die Expertin bestätigte – mit kräftigen Armen und scharfen Haken, mit denen er sogar zwei Meter lange Antarktisdorsche bezwingen könne.

Moderne Technik bietet Einblicke in die Tiefsee

Dank moderner Technik gelingt es Forschenden inzwischen immer häufiger, Tiefseebewohner zu beobachten. Öffentlich zugängliche Livestreams ermöglichen es inzwischen selbst Laien mit Internetzugang, die Entdeckung solcher Meeresbewohner in Echtzeit mitzuerleben.

„Die Sichtung zeigt, wie wenig wir über die Bewohner des Südlichen Ozeans wissen“, sagte Jyotika Virmani, Direktorin des Schmidt Ocean Institute. Die Videoqualität sei hoch genug gewesen, um Expertinnen wie Bolstad, die nicht an Bord war, eine zuverlässige Bestimmung zu ermöglichen.

Das ROV SuBastian hat mittlerweile die ersten bestätigten Videoaufnahmen von mindestens vier Tiefsee-Kalmararten gemacht – darunter auch Spirula spirula im Jahr 2020 und Promachoteuthis im Jahr 2024. Eine weitere mögliche Erstsichtung steht derzeit noch zur Bestätigung aus.

Bolstad erinnert in ihrer Abhandlung an die immense Bedeutung der Tiefsee. Sie beherberge Hunderttausende unentdeckter Arten, sei „wahrscheinlich der Ursprungsort allen Lebens auf der Erde“ und mache 95 Prozent des Lebensraums unseres Planeten aus, so die Forscherin. „Hier leben Tiere, die prachtvoller und seltsamer sind als alles, was wir uns in der Science-Fiction vorstellen.“