Die Sängerinnen und Sänger interpretieren dank intensiver Probenarbeit in Topform. Foto: E. Klaper
Von Elisabeth Klaper
Murrhardt. Ein denkwürdiges Hörerlebnis ist das Passionskonzert der evangelischen Kirchenmusik. Die am Karfreitag aufgeführten, sehr unterschiedlichen Chor- und Orgelwerke vom 16. bis zum 20. Jahrhundert mit den Schlüsselworten „Agnus Dei“ (Lamm Gottes) und „Dona nobis pacem“ (Gib uns Frieden) stellen eine intensive inhaltliche Auseinandersetzung mit dem Leiden und Sterben Jesu Christi am Kreuz dar. Die Bandbreite des kontrastreichen Programms, mit ausgeklügeltem Wechsel zwischen Chorgesang und Orgelspiel, reicht von hymnischen, himmelwärts strebenden Harmonien bis zu tiefsten und finstersten, schmerzhaft dissonanten Tontrauben.
Höhepunkte sind die Darbietungen des Kammerchors der Walterichstadt unter der Leitung von Kantor Gottfried Mayer. Die Sängerinnen und Sänger interpretieren dank intensiver Probenarbeit in Topform absolut überzeugend, zugleich innig und hingebungsvoll ein breit gefächertes Panorama verschiedenartiger Ausdruckswelten der Chormusik, meist a cappella.
Am faszinierendsten sind zwei zur Meditation anregende Teile aus der Missa brevis von Giovanni Pierluigi da Palestrina, einem der bedeutendsten italienischen Renaissancekomponisten: Kyrie Eleison (Herr, erbarme dich) und Agnus Dei II. Fast überirdisch schön wirken die feierlich erhabene Melodik und vielstimmige Harmonik. Der Kammerchor bildet ein die gesamte Kirche erfüllendes, strahlendes und schwebendes Gewebe aus Stimmklängen. Dieses Juwel der Chormusik ist Vorbild für die Kirchenmusik und hat jahrhundertelang zahlreiche Komponisten verschiedener Epochen und Stile inspiriert.
Ein stärkerer Gegensatz zur ästhetischen Tonkunst Palestrinas ist kaum vorstellbar als „Die Finsternis“ aus dem Buch des heiligen Sakraments für Orgel von Olivier Messiaen, der vor 30 Jahren verstarb. Diese 18 Sätze umfassende Sammlung beinhaltet komplexe kompositorische Annäherungen an das Mysterium der Eucharistie. Satz IX, „Die Finsternis“, besteht aus bedrohlich und unheimlich wirkenden Klangkombinationen. Die aggressiven Dissonanzen und Zusammenballungen unterschiedlichster Töne schmerzen in den Ohren, wobei die Grenze zwischen Klängen und Geräuschen verschwimmt.
Matthias Fuchs, Klavierlehrer und Studienkollege von Gottfried Mayer aus Affalterbach, interpretiert auf der Mühleisen-Orgel diese akustische Veranschaulichung der Finsternis nach Texten aus dem Lukasevangelium ebenso stilvoll und adäquat wie die weiteren Orgelwerke des Programms. Als Jesus Christus, das „Licht der Welt“, als „Lamm Gottes“ gekreuzigt wird, breitet sich tiefste Finsternis aus, die nach dem Matthäusevangelium bis nach dessen Tod währt. In starkem Kontrast dazu steht Satz VIII, „Die Einsetzung des Abendmahls“: Mit würdevollen, feierlich erstrahlenden, an Fanfaren erinnernde Durklängen hebt Messiaen die Worte Jesu Christi hervor. In mystischen, fremdartig wirkenden Klangnuancen, Harmonien und Dissonanzen bringt der Komponist jedoch auch die Symbolik des Brots als Leib und des Weins als Blut zum Ausdruck, somit das Leiden und den Tod des Sohnes Gottes am Kreuz.
Der italienische Komponist Carlo Gesualdo da Venosa vertont in der Chormotette „O vos omnes“ den Text „...ob ein Schmerz sei wie mein Schmerz“ aus den Klageliedern Jeremias in einer für die Epoche des Frühbarocks harmonisch außergewöhnlichen Vorhaltstechnik. Vorhalte sind funktionsfremde, daher dissonant wirkende Nebennoten, die einen Ganz- oder Halbton über oder unter ihren Haupttönen gebildet werden und sich dann in harmonische Töne auflösen. Die Sängerinnen und Sänger des Kammerchors bringen die frühbarocke Motette und deren besondere Details feinsinnig zur Entfaltung.
Mit rhythmischem Schwung gestalten sie Anton Bruckners Passionsmotette „Christus factus est“ (Christus, der für uns erschaffen ist) nach einem Text aus dem Philipperbrief. Sie erinnert in ihrem spätromantischen Reichtum an Klangfacetten, verschiedenartigen melodischen und harmonischen Elementen ebenso wie in ihrer Form an die späten Sinfonien des innovativen österreichischen Tonschöpfers. Francis Poulenc gilt als Mittler zwischen den Klangwelten der Spätromantik und der Moderne, seine Chormusik gehört zu den schönsten des frühen 20. Jahrhunderts. Im „Agnus Dei“, seiner Messe in G-Dur, gestaltet er den ersten Teil als Sopransolo, das Rabea Vockeroth mit ihrer wunderschönen, auch in höchsten Höhen brillant klingenden Stimme filigran interpretiert.
Dann setzen die Kammerchorsängerinnen und -sänger ein und verdeutlichen in ihrer Darstellung, wie Melodik und Harmonik eine ausgewogene Symbiose aus traditioneller und moderner Klangsprache eingehen. In minutiös einstudierter Intonation lassen sie das Werk mit dem im Pianissimo gesungenen „Gib uns Frieden“ ausklingen. Innig gestaltet der Kammerchor auch „Das Agnus Dei“ von Max Reger über das Kirchenlied „O Lamm Gottes, unschuldig“ von Nikolaus Decius aus dem 16. Jahrhundert, eine spätromantische Meditation in reich ausgearbeiteten Melodiebögen.
Ebenso das stimmungsvolle „Also hat Gott die Welt geliebt“ aus dem Oratorium „Die Kreuzigung“ von John Stainer aus der englischen Romantik. Matthias Fuchs bereichert das Programm mit Interpretationen von Orgeltonkunstwerken des Renaissancekomponisten Heinrich Scheidemann, Johann Sebastian Bach und Max Reger. Mit starkem, lang anhaltendem Applaus dankt die große Schar der Zuhörerinnen und Zuhörer in der nahezu voll besetzten Stadtkirche den Sängerinnen und Sängern des Kammerchors und Organist Matthias Fuchs für ihre eindrucksvollen Darbietungen.