Nahost-Konflikt
Was folgt nach Irans Raketenangriff auf Israel?
Nach dem Raketenangriff auf Israel hat Premier Benjamin Netanjahu Vergeltung angekündigt. Was droht nun in dem Konflikt, der zunehmend eskaliert?
Von Von Arne Bänsch und Gregor Mayer, dpa
Teheran/Tel Aviv - Die Luftstreitkräfte der Revolutionsgarden, Irans Elitestreitmacht, haben bereits zum zweiten Mal in diesem Jahr den Erzfeind Israel direkt angegriffen. Sie feuerten rund 200 Raketen ab, die auf Luftwaffenstützpunkte und das Hauptquartier des Geheimdienstes Mossad zielten. Nach israelischen Angaben wurde der Angriff größtenteils abgewehrt - den Regierungschef Benjamin Netanjahu dennoch nicht unbeantwortet lassen will. Fragen und Antworten zur zunehmenden Eskalation des Konflikts:
Wie könnte ein israelischer Gegenschlag aussehen?
Israel hat bereits angekündigt, entschieden auf den Raketenangriff zu reagieren. Mögliche Ziele oder den Zeitpunkt nannte das Militär oder die Regierung jedoch nicht. Angesichts des jüdischen Neujahrsfest Rosch Haschana, das an diesen Tagen gefeiert wird, dürfte der Gegenangriff jedoch nicht unmittelbar bevorstehen.
Die "New York Times" berichtete unter Berufung auf US-Beamte, in einem möglichen Szenario könnte Israel die iranischen Nuklearanlagen angreifen. Insbesondere die Anreicherungsanlagen in Natans, dem Herzstück des iranischen Programms, könnten im Visier stehen. Die Anlage tief unter einem Gebirge im Zentraliran gilt schon lange als mögliches Ziel im Konflikt zwischen der Islamischen Republik und Israel. Der Westen hat Teheran immer wieder vorgeworfen, nach Atomwaffen zu streben.
Auch Angriffe auf die Infrastruktur der iranischen Öl- und Gasindustrie könnten die Führung des rohstoffreichen Landes empfindlich treffen. Trotz strenger internationaler Sanktionen erzielt die Regierung ihre Haupteinnahmen weiterhin durch den Ölverkauf, wobei China der Hauptabnehmer ist.
Experten gehen davon aus, dass auch führende Politiker oder Militärkommandeure selbst mögliche Angriffsziele sein könnten. In den vergangenen Wochen haben Israels Militär und Geheimdienst mit der Tötung von Anführern der islamistischen Hamas und der libanesischen Hisbollah-Miliz gezeigt, dass sie ihre Feinde selbst in gut geschützten Bunkern tief unter der Erde erreichen können. Solche Angriffe hätten jedoch vermutlich das größte Eskalationspotenzial.
Wie gut sind Israel und Iran militärisch aufgestellt?
Die Islamische Republik Iran verfügt mit mehr als 600.000 aktiven Soldaten und rund 350.000 Reservisten über eine der größten Armeen im Nahen Osten. In den letzten Jahrzehnten hat das Land erheblich in sein Raketen- und Drohnenarsenal investiert. Beim Angriff auf Israel kamen erstmals auch Hyperschallraketen zum Einsatz, die Israel in nur wenigen Minuten erreichen können. Die Standorte der Raketensilos und Drohnenbasen sind geheim, sollen aber teils tief unter der Erde oder in Gebirgsregionen geschützt sein.
Der größte Schwachpunkt ist Irans Luftwaffe. Die Flotte gilt als stark veraltet, und ihre Modernisierung stockt aufgrund der internationalen Sanktionen. Viele Flugzeuge und Hubschrauber stammen noch aus der Zeit vor der Islamischen Revolution 1979, als das Land enge Beziehungen zu den USA pflegte. Ähnliches gilt für Irans Luftabwehr, die im Falle eines Angriffs Israels modernen Kampfflugzeugen deutlich unterlegen wäre.
Israels militärische Stärke übertrifft die des Irans in vielen Bereichen. Die Luftwaffe gilt als eine der modernsten weltweit, mit fortschrittlichen Kampfjets und Drohnentechnologie. Dank der engen militärischen Partnerschaft mit den USA hat Israel Zugang zu modernsten Waffensystemen. Israels Auslandsgeheimdienst Mossad ist bekannt für seine Spionage- und Sabotageoperationen. Außerdem gilt es als sicher, dass Israel - obwohl es nie offiziell zugegeben wurde - Atomwaffen besitzt.
Die Konfrontation droht zu eskalieren - für wen ist es das größere Risiko?
Seit Ausbruch des Gaza-Kriegs vor rund einem Jahr drohte der jahrzehntelange Schattenkrieg zwischen Iran und Israel immer wieder zu eskalieren und sich zu einem größeren regionalen Flächenbrand zu entwickeln. Israel sieht sich seit dem Terrorangriff der Hamas am 7. Oktober 2023 einem Mehrfrontenkonflikt mit militant-islamistischen Gruppen ausgesetzt. Teheran unterstützt diese Milizen seit Jahrzehnten im Kampf gegen den gemeinsamen Erzfeind.
Dabei steht die Regierung von Netanjahu international in der Kritik – wegen der hohen Opferzahlen im Gazastreifen und einer möglichen Invasion im Libanon. Gleichzeitig verzeichneten Armee und Geheimdienst mit der Tötung von Hamas-Auslandschef Ismail Hanija und Hisbollah-Generalsekretär Hassan Nasrallah militärische Erfolge. Die iranische Führung dürfte sich auch deshalb zu dem Raketenangriff gedrängt gefühlt haben, nachdem Anhänger ihr Untätigkeit vorgeworfen hatten.
Ein unkalkulierbares Risiko für Irans politische und militärische Führung ist das iranische Volk selbst. Ein Großteil der Gesellschaft im Iran steht der Regierung und dem islamischen Herrschaftssystem nach Jahren politischer Repression kritisch gegenüber. Angesichts der militärischen Spannungen konnte auch der neue und als gemäßigt geltende Präsident Massud Peseschkian nichts daran ändern. Er war zuletzt um eine Wiederannäherung mit dem Westen bemüht, forderte neue Atomgespräche zur Lockerung der Sanktionen, um die Wirtschaftskrise im Land zu bewältigen.
Welche Rolle spielen die USA?
Rückendeckung dürfte Israel von den USA erhalten. Der wichtigste Verbündete hilft dem jüdischen Staat uneingeschränkt bei der Abwehr iranischer Raketen. Zugleich graut es der US-Administration unter Präsident Joe Biden davor, wenige Wochen vor den Präsidentschaftswahlen in einen flächenbrandartigen Nahost-Krieg hineingezogen zu werden. Bei einem Vergeltungsangriff auf den Iran könnte Israel auf amerikanische Hilfe angewiesen sein, sei es in Form von geheimdienstlichen Informationen oder Bereitstellung bunkerbrechender Bomben. "Israel täte gut daran, seine Antwort mit der US-Administration abzustimmen, bevor es losschlägt", schrieb die regierungsnahe Zeitung "Israel Hajom". Wenige Wochen vor den Wahlen wolle Washington nicht in unüberschaubare militärische Aktivitäten verstrickt werden.