Die Aufnahme zeigt den Ausschnitt einer Zeichnung des Predigers Eduard Wüst als Student von einem unbekannten Künstler. Foto: Carl-Schweizer-Museum
Von Elisabeth Klaper
Murrhardt. Eduard Wüst, der am 23. Februar 1818 in der Walterichstadt als Sohn des Bäckers und Waldhornwirts Johann Wüst und dessen Frau Katharina zur Welt kam, war ein einflussreicher Wanderprediger und geistlicher Vater für viele Generationen von Gläubigen. Zeitgenossen empfanden ihn wegen seines revolutionären christlichen Glaubens als religiösen Eiferer. Laut alten Schriftquellen hatte er eine starke, wohlklingende Stimme und ein sympathisches Auftreten.
Es gelang ihm, Ausgewanderte in heute umkämpften Gebieten der Südukraine, in Südrussland und zahlreiche Einwohner von Kosakendörfern zu motivieren, ihr Leben nach christlichen Grundsätzen auszurichten, erzählt Heimatgeschichtsforscher Christian Schweizer. Nach dem Studium der evangelischen Theologie in Tübingen war Eduard Wüst unter anderem in Rietenau als Vikar tätig. Dort lernte er die strenge pietistische Theologie von Johann Michael Hahn kennen, der die Hahn’sche Gemeinschaft gründete. Eduard Wüst übernahm dessen These der „Allversöhnung“, wonach alle Menschen, teils nach langen und schweren Höllenstrafen, dank der Gnade Jesu Christi auferstehen. Diese Lehre widerspricht jedoch einem Artikel im lutherischen Augsburger Bekenntnis. Darum entließ die evangelische Landeskirche den Theologen.
Die evangelische Brüdergemeinde vermittelte Wüst ans Asowsche Meer
Im Jahr 1845 wurde er auf Vermittlung der evangelischen Brüdergemeinde Korntal in die russlanddeutschen Siedlungen und lutherischen Gemeinden am Asowschen Meer berufen. Dort waren zwischen 1816 und 1822 Tausende schwäbische pietistische Gläubige angesiedelt worden. Sie wollten in Erwartung des Jüngsten Tags in der Nähe des Berges Ararat leben und gründeten aus Protest gegen den theologischen Rationalismus der evangelischen Amts- und Landeskirchen eine neue Brüderbewegung. Wie Eduard Wüst lehnten diese Laien feste kirchliche Strukturen und Zeremonien ab. Sie wollten bibeltreu leben und versammelten sich in „Stunden“, wöchentlichen Hausandachten mit Gebet, Bibellektüre und Schriftauslegung. Im Zentrum stand der Ruf nach Bekehrung und Wiedergeburt im Glauben an Jesus Christus. Eduard Wüst entfaltete eine umfangreiche Evangelisations- und Predigttätigkeit: Seine Forderungen nach Buße und geistlicher Erweckung zeigten starke Wirkungen in den Gemeinden. Ab 1857 bildete sich auch in russland-deutschen Kolonien an der Wolga eine neupietistische Brüderbewegung. Selbst russisch-orthodoxe Erntehelfer, die durch Kontakte zu deutschen Bauern deren Sprache erlernt hatten, kamen unter den religiösen Einfluss ihrer protestantischen Nachbarn und schlossen sich der Bewegung trotz massiven Widerspruchs ihrer Priester an.
Durch öffentliche missionarische Predigten in deutscher Sprache dehnte Eduard Wüst seinen Wirkungskreis immer weiter aus. Er verkündete den Glauben an das bevorstehende Kommen Christi und forderte eine biblische Lebensweise. Erfolgreich bekämpfte er den verbreiteten Alkoholmissbrauch, der als besonders verwerflich und Quelle des Lasters galt, und den Aberglauben. Zudem rief er zu regelmäßigen Gottesdiensten in Familien und Gebeten an öffentlichen Orten bei bestimmten Anlässen auf. Sein Engagement wirkte sich positiv aus, so wurde in der Diözese Neuhoffnung am Asowschen Meer jahrelang kein Verbrechen begangen. Wüst entwickelte freundschaftliche Beziehungen zur Berdjansker Mennonitengemeinde, zu Vertretern und Ältesten von Bibelkreisen und Vereinen in Dörfern der Mennonitenkolonie Molotschna (Milchland) im heutigen ukrainischen Verwaltungsbezirk Saporischschja. Dies führte zur Gründung mennonitischer Brüdergemeinden aus Lutheranern, die zum mennonitischen Glauben übertraten.
Die Mennoniten bauten aus Demut Bethäuser ohne Turm und Glocken
Die Freikirche der Mennoniten geht auf die Täuferbewegung der Reformationszeit zurück, basiert auf Grundsätzen urchristlicher Gemeindeordnung und des Pazifismus. Die Gemeinden bauten charakteristische Bethäuser, die als Ausdruck religiöser Demut und Schlichtheit weder einen Turm noch ein Glockengeläut hatten. „Bis heute gibt es auf der Krim und in der Region Saporischschja erhaltene Kirchengebäude dieser ehemaligen Auswanderer, ebenso wiedergegründete Gemeinden“, berichtet Christian Schweizer. Diese Mennoniten waren für das 19. Jahrhundert bemerkenswert fortschrittlich. Sie gründeten soziale Einrichtungen wie Krankenhäuser, Diakonissenheime, Armen- und Waisenhäuser, sogar Schulen für Taubstumme. Möglich machten dies starke wirtschaftliche Expansion und fortbestehende Kontakte zu mennonitischen Gemeinden in Mittel- und Westeuropa.
Im Herbst 1858 erkrankte Eduard Wüst schwer, am 13. Juli 1859 starb er in Neuhoffnung an der Wolga. Sein Bruder Friedrich Wilhelm Wüst (1796 bis 1863) war württembergischer Heimatdichter, Gründer und erster Dirigent des Liederkranzes Tübingen, zudem laut Schweizer mit den Murrhardter Familien Seeger, Nägele und Zügel verwandt.