Cold Case in Australien
Morde in der Easey Street stehen vor der Aufklärung
Ein weinendes Baby und zwei tote Frauen: Der Fall beflügelt seit fast 50 Jahren die Fantasie der Australier. Jetzt scheint die Polizei diesen legendären Cold Case zu den Akten legen zu können.
Von Barbara Barkhausen
Der Fall hat im Lauf der Jahrzehnte die Fantasie der Australier beschäftigt. Er inspirierte Bücher, Podcasts und Kunstwerke. Vor fast 50 Jahren wurden zwei junge australische Frauen in ihrem Haus in Melbourne brutal ermordet. Nur der kleine Sohn eines der Opfer überlebte. Als in diesem September der mutmaßliche Täter im fernen Italien festgenommen wurde, war es, als würde sich ein Kreis schließen. Inzwischen ist klar, dass der Mann ausgeliefert wird. Er hat der Auslieferung zugestimmt, um „seinen Namen reinzuwaschen“.
„Die Morde in der Easey Street“ – so nennt man in Australien die beiden Mordfälle, die im Januar 1977 ganz Melbourne in Schock versetzten. Allein lebende Frauen wurden in den Tagen und Monaten danach gewarnt, ihre Türen verschlossen zu halten. In den Zeitungen wurden die Morde an der 27-jährigen Suzanne Armstrong und ihrer ein Jahr älteren Mitbewohnerin Susan Bartlett als eines der brutalsten Sexualverbrechen in der Geschichte der Stadt bezeichnet.
Babyweinen ruft die Nachbarn auf den Plan
Die beiden Frauen waren am 13. Januar tot in ihrem Haus in der Easey Street im Stadtteil Collingwood aufgefunden worden. Der Bruder einer der Frauen hatte sie zuletzt drei Tage zuvor gegen 21 Uhr gesehen. Zu diesem Zeitpunkt hatte der 16 Monate alte Gregory, der Sohn von Suzanne Armstrong, friedlich in seinem Kinderbett geschlafen, während die beiden Freundinnen es sich vor dem Fernseher gemütlich gemacht hatten, um eine Serie anzuschauen.
Drei Tage später fand man Armstrong tot auf dem Boden ihres Schlafzimmers. Gregory lag – dehydriert, aber unverletzt – im Bettchen. Sein Weinen hatte die Nachbarn auf den Plan gerufen. Seine Mutter hatte 27 Messerstiche – drei davon durchs Herz. Sie war nach ihrem Tod vergewaltigt worden. Bartlett wies 55 Stichwunden auf, Schnitte an Armen und Händen. Sie wurde mit dem Gesicht nach unten in der Nähe der Haustür gefunden. Die Polizei vermutet, dass sie erstochen wurde, nachdem sie den Täter hörte und ihrer Freundin zu Hilfe eilen wollte.
Doch obwohl die Morde und das Schicksal des kleinen Gregory großes Aufsehen erregten – es gab Podcasts, Bücher und sogar Kunstwerke über die Verbrechen – blieb der Fall bis jetzt ungelöst. Noch im Januar 2017 hatte die Polizei eine Belohnung in Höhe von einer Million Australische Dollar (rund 609 000 Euro) für Hinweise ausgeschrieben. Doch auch dies blieb ohne Erfolg. Als die Polizei im Bundesstaat Victoria Ende September bekannt gab, dass der mutmaßliche Täter gefasst sei, war die Überraschung deshalb groß. „Mann im Rahmen der Ermittlungen zu Morden in der Easey Street festgenommen“. Die Nachricht verbreitete sich wie ein Lauffeuer in ganz Australien.
Auslieferungsersuchen via Interpol
In Gewahrsam ist seitdem ein 65-jähriger Mann, der die doppelte Staatsbürgerschaft Australiens und Griechenlands besitzt. Die Polizei hatte seit Jahren ein Auge auf ihn. Er wurde am Flughafen in Rom festgenommen, nachdem er über ein Auslieferungsersuchen via Interpol (Red Notice) gesucht worden war.
Daheim in Australien erklärte der lokale Polizeichef Shane Patton unterdessen, die Easey-Street-Morde hätten für die Polizei „stets Priorität“ gehabt. Viele Menschen hätten „enorm viel Arbeit geleistet, um uns in die Lage zu bringen, in der wir heute sind“, so Patton. „Dies war ein Verbrechen, das das Herz unserer Gesellschaft traf – zwei Frauen in ihrem eigenen Zuhause, wo sie sich am sichersten hätten fühlen sollen.“ In seiner Stellungnahme verwies Patton auch auf die langjährige „Widerstandsfähigkeit“, die die Familien der beiden Frauen gezeigt hätten. Armstrongs Schwester Gayle zog den kleinen Gregory nach dem Mord an Suzanne wie ihr eigenes Kind auf. Zweifellos werde dies „eine sehr emotionale Zeit“ für die Familien sein, sagte Patton. Er hoffe, dass die Festnahme den Angehörigen Antworten liefern werde, die sie verdienten und auf die sie so lange gewartet hätten.
Polizei informierte die Familien der Opfer
Die beiden Familien waren nach der Nachricht aus Italien persönlich von den zuständigen Ermittlern informiert worden und sollen im ersten Moment völlig perplex gewesen sein. Später gaben sie dann eine gemeinsame, emotionale Erklärung an die Medien ab. Es sei für sie immer unmöglich gewesen zu verstehen, „auf welche unnötige und gewalttätige Weise Suzanne und Susan starben“, schrieben sie. Die Schwere der Umstände ihres gewaltsamen Todes habe ihr aller Leben „unwiderruflich verändert“.
Ein Motiv für die Morde ist auch Wochen nach der Verhaftung nicht bekannt. Der mutmaßliche Mörder war zum Zeitpunkt der Tat selbst erst 18 Jahre alt gewesen. Der Mann muss mit großer Kaltblütigkeit vorgegangen sein. Nach den Morden war er offensichtlich nicht sofort geflohen. Vielmehr ging er allem Anschein nach zuerst ins Badezimmer, wo er versuchte, sich zu waschen und Beweise wegzuspülen. Danach verschwand er spurlos durch die Hintertür in die Nacht – wie es jetzt aussieht – für 47 Jahre.