Die Katholiken, die nach dem Krieg in der Walterichstadt eine neue Heimat fanden, konnten zunächst in einem überschaubaren Gebetssaal, dann in der Walterichskirche ihre Gottesdienste feiern. Mit der Zeit bauten sie eine eigene Kirche, die später durch den modernen Kirchenbau abgelöst worden ist, und das katholische Gemeindezentrum St. Maria (Foto) auf. Foto: MZ-Archiv/Digitalisierung: A. Kozlik
Von Elisabeth Klaper
MURRHARDT. Die Kirchengemeinden waren nach Kriegsende wichtige Orte. Dort spielte sich ein bedeutender Teil des sozialen Lebens ab. Laut Eugen Gürr, „Murrhardter Chronik 1945/46“, trat die weihnachtliche Feststimmung deutlich zutage, „mehr als je in (der) Friedenszeit. (...) In der Walterichskirche war an den Adventssonntagen Krippe(n)spiel. Der Kindergarten feierte wie einst vorher, (ebenso) die Kinderkirche.“ Im Saal des Gasthofs Engel wurde das Oberuferer Christgeburtsspiel zweimal vor vielen Zuschauern aufgeführt. „Am Heiligen Abend war um 18 Uhr Weihnachtsmusik vor dem Rathaus unter schönem Lichterbaum“ mit bekannten Weihnachtsliedern. Indes gibt der Chronist nicht an, ob der Musikverein Stadtkapelle oder ein anderes musikalisches Ensemble diese Darbietung gestaltete. 1946 fanden laut Gürr mehrere gut besuchte Vorträge der anthroposophisch ausgerichteten Christengemeinschaft und der in der NS-Zeit stark verfolgten „Zeugen Jehovas“ im Schwanensaal statt, und auch die Neuapostolische Kirche warb vor allem um die Jugend. Pfarrer Gottfried Husemann von der Christengemeinschaft aus Stuttgart referierte über den Murrhardter Prälaten Friedrich Christoph Oetinger, „ein Bote des Geistes“. Gürrs Fazit: „Oetinger war der bedeutendste Geist seines Jahrhunderts. (...) Er kämpfte sich empor, bis er den Seelen der Abgeschiedenen predigen, ja helfen konnte, (...) gehörte er damals zu denen, die (...) die Zentralschau besaßen?“ Die Menschen sollten sich abwenden vom Materialismus und ein christliches gottgefälliges Leben führen.
Über die Osterzeit 1946 berichtet der Chronist, dass es am Karfreitag „eine musikalische Andacht“ gab. „Am Karfreitag und Osterfest mit je zwei Gottesdiensten am Vormittag gingen bei großem Besuch etwa 900 Reichsmark Opfer ein. Viele Menschen waren als Besucher in Friedhof, Kirche und am Ölberg. Im Opferstock des Heiligen Walterich waren in der Osterzeit 1529 Reichsmark drin. Das ist viel. Ob die Wallfahrt als solche noch stark und ernst ist, kann nicht beurteilt werden.“
Laut Zeitzeugin Gisela Fleschmann-Becker zeigten die Verantwortlichen der evangelischen Kirchengemeinde um Stadtpfarrer Gotthilf Leitz christliche Nächstenliebe, indem sie den katholischen Flüchtlingen und Vertriebenen die Walterichskirche für deren Sonntagsgottesdienste zur Verfügung stellten. Damit setzten sie die ökumenische Tradition fort, die in Murrhardt bei der Walterichswallfahrt bereits seit der Reformation gepflegt wurde. „Meist kamen evangelische Einwohner und katholische Neubürger gut miteinander zurecht. Oft feierten sie auch gemeinsam die kirchlichen Feste und unterstützten einander beim sonn- und feiertäglichen Kochen.“
Zeitzeugin Annemarie Meindl berichtet hingegen: „Es dauerte lange, bis die evangelischen und katholischen Einwohner gut miteinander zurechtkamen und eine gewisse gegenseitige Akzeptanz herrschte. Es war schwierig, die konfessionellen Unterschiede und Mentalitäten zu überwinden. Trotzdem unterstützten die evangelischen Einwohner die katholischen Neubürger bei wichtigen Aktivitäten und Projekten. Und ab den 1950er-Jahren kam es zu zahlreichen gemischtkonfessionellen Ehen zwischen Einheimischen und Neubürgern.“
Zeitzeuge Helmut Klink erinnert sich, dass in die kleine Kapelle mit Gebetssaal in der Grabenstraße nur rund 25 Personen passten: „Das reichte bei Weitem nicht für den Sonntagsgottesdienst aus. Diesem Mangel an einem ausreichend großen Raum wurde abgeholfen, indem die evangelische Kirchengemeinde den Katholiken die Walterichskirche zur Verfügung stellte, damit wir sonntags Gottesdienst feiern konnten. Günter Dressler, erster Pfarrer der seit Anfang der 1950er-Jahre offiziell bestehenden katholischen Kirchengemeinde St. Maria Murrhardt, fuhr auch mit einem leichten Motorrad nach Grab und Spiegelberg und hielt dort Gottesdienst, wir Ministranten fuhren abwechselnd mit dem Fahrrad mit.“ Unter Pfarrer Dresslers Regie „bauten die Mitglieder der katholischen Kirchengemeinde mit viel Eigenleistung Anfang der 1950er-Jahre eine eigene Kirche, das heutige katholische Gemeindezentrum in der Blumstraße.“ Günter Dressler war laut Klink sehr rührig und tat viel für die Jugend, und umgekehrt engagierten sich auch die Jugendlichen für die Kirchengemeinde. „Der Pfarrer ließ etwa dort, wo heute die Festhalle steht, ein kleines Jugendheim bauen mit einem Raum, der etwa so groß wie ein Wohnzimmer war und in dem die Jugendstunden stattfanden. (...) Nach der Kircheneinweihung zogen wir um ins heutige Pfarramtsgebäude, wo nun der Kindergarten St. Maria untergebracht ist.“
Zeitzeugin Gisela Franke erinnert sich, dass damals Haarschleifen bei jungen Mädchen groß in Mode waren. „Die Bäuerin im Spechtshof (wo Frankes Familie wohnte) regte sich auf, dass wir Kinder so etwas trugen, wenn wir zu Fuß nach Grab zur Kirche gingen. Denn die evangelische Kirchengemeinde Grab stellte den Katholiken (die in den nördlichen Teilorten Murrhardts und benachbarten Dörfern wohnten) die dortige Kirche für Gottesdienste zur Verfügung. Auch zum Religionsunterricht gingen wir nach Grab zu Fuß über die Äcker und durch die Wälder bei jedem Wetter.“