Spuren im Untergrund

Was Expeditionen unter dem Kölner Dom zutage fördern

Unter dem Kölner Dom sieht es aus wie in den Minen von Moria. In dieser Gegenwelt kreuzen sich Epochen und Kulturen. Und es gibt eine Frau, die sich dort bestens auskennt.

Was Expeditionen unter dem Kölner Dom zutage fördern

Domarchäologin Ruth Stinnesbeck sitzt am Eingang zu den Katakomben unter dem Kölner Dom – der kölschen Version von J.R.R. Tolkiens „Mienen von Moria“.

Von Christoph Driessen (dpa)/Markus Brauer

Im Untergrund des Kölner Doms liegt eine stille, fast unbekannte Welt. Ein Labyrinth von Kellergewölben mit Pfeilern, Mauerresten, Steinquadern, Durchgängen und Gruben breitet sich dort aus. Es sieht ein bisschen so aus wie in den Minen von Moria in „Der Herr der Ringe“. An dieser Schnittstelle von Jahrtausenden arbeitet Domarchäologin Ruth Stinnesbeck (58). Sie weiß alles über den Ort, er ist fast so etwas wie ihr zweites Zuhause.

600 Jahre Bauzeit

Der Kölner Dom wurde von 1248 bis 1880 gebaut. 600 Jahre Bauzeit: Das ist nicht eben schnell, aber gut, irgendwann war der Koloss fertig. Einige Jahre später wurden die ersten Archäologen vorstellig und fragten an, ob sie wohl unter dem Dom graben könnten.

Nicht nur die lange Baugeschichte sei spannend, sondern auch der Umstand, dass die Kathedrale auf einem früheren römischen Wohnviertel stehe. Die Chefs des Doms, vereinigt im sogenannten Domkapitel, fanden das keine gute Idee. Jetzt, wo endlich, endlich alles zu Ende gebaut war, den Fußboden aufreißen? „Janz bestemmp net.“

Vorstoß in unerforschte Tiefen

Archäologin Stinnesbeck kann das sogar verstehen. Dann aber kam der Zweite Weltkrieg. Mehr als 70 Bomben schlugen im Dom ein und verursachten immense Zerstörung. Auch wenn man heute immer wieder lesen kann, der Dom habe den Krieg fast unbeschadet überstanden. Das sah höchstens von weitem so aus. Der Dom musste also repariert werden, und als allererstes wollte man prüfen, ob die Fundamente überhaupt noch in Ordnung waren. Das bedeutete: Jetzt gab es doch die Erlaubnis, in unerforschte Tiefen vorzustoßen.

Die Unterseite des Doms wurde aufgebohrt. Und dabei traten nicht nur die Fundamente zutage, die 16 Meter tief in die Erde reichen und 120.000 Tonnen wiegen – so viel wie der gesamte Dom oben drüber. Die Archäologen legten auch lang versunkene Welten frei. Und zwar immer neue. Ruth Stinnesbeck vergleicht die Grabungszeit nach dem Krieg mit einem Überraschungsei: „Man weiß nie, was man kriegt.“

Das kölsche Pharaonengrab

So entdeckten die Forscher 1959 das Grab einer Frankenprinzessin aus dem Frühmittelalter. Ein Arbeiter hatte auf einer Steinplatte gestanden, die plötzlich nachgab, und so sackte er mitten in das Grab und soll bei dieser Gelegenheit den historischen Ausspruch „Ich stonn im Jold!“ („Ich steh’ im Gold“) getätigt haben. Die Fundstelle war das kölsche Gegenstück zu einem ägyptischen Pharaonengrab.

Noch heute ist es spannend, diese Welt zu durchwandern. Man passiert uralte Sarkophage, wer hat da wohl drin gelegen? Auf jeden Fall wichtige Leute aus dem Mittelalter, denn die Sarkophage stammen aus dem sogenannten Alten Dom, dem Vorgängerbau des heutigen Doms. Der war auch schon nicht gerade klein, sondern 90 Meter lang, fünfschiffig und Vorbild für viele andere Kirchen.

Von einer Brücke ergibt sich ein Blick nach unten in den ehemaligen Wohnbereich einer römischen Villa samt Wandmalerei. An einer anderen Stelle ist ein kreisrunder römischer Gully zu erkennen und darunter das Abwasserrohr.

Überraschungseier unter dem Dom zu Köln

260.000 Einzelobjekte wurden unter dem Dom gefunden: von Goldschmuck aus den fränkischen Gräbern bis hin zu massenhaft vorhandenen Keramikscherben. „Keramik ist in der Archäologie das sogenannte Leitfossil, denn die haben Sie wirklich überall“, erzählt Stinnesbeck.

„Das ist nichts anderes als Verpackungsmaterial. Das, was heute in Form von Cola-Dosen und McDonalds-Papier draußen auf der Straße liegt, das war früher Keramik.“ Es wurde schon deshalb dauernd weggeworfen, weil es kaputt ging, sobald man es einmal fallen ließ. Und weil es einem starken modischen Wandel unterworfen war, kann man an jeder Scherbe ablesen, aus welcher Epoche sie stammt.

Im Mittelalter stand hier eine Brillenfabrik

Der vielleicht kurioseste Fund sind die Abfälle einer mittelalterlichen Brillenwerkstatt. Brillenfassungen wurden damals aus Knochen gefertigt. „Fast jeder kennt noch den Film „Der Name der Rose“ mit Sean Connery – und der hat genau so ein Ding“, ruft Ruth Stinnesbeck in Erinnerung. Es ist eine Klappbrille, die sich der schottische Filmstar in der Rolle des Franziskanermönchs William von Baskerville vor die Augen hält.

„Und genau diese Teile sind hier gefertigt worden, wahrscheinlich im 15. Jahrhundert. Wir haben nicht nur die Überreste von Fassungen, sondern die Überreste von allen Produktionsschritten, um solche Fassungen herzustellen.“ Die Brillenwerkstatt lag vermutlich am Rande der Dombaustelle, die Abfälle wurden aber offenbar in die Baugruben gekippt.

„Wo hat man das in der Archäologie, dass einem 2000 Jahre offen stehen“

Ruth Stinnesbeck hat schon während ihres Studiums in den Fundamenten des Doms gegraben. „Um ehrlich zu sein, wenn man beginnt, Archäologie zu studieren, schwebt einem erst einmal ein exotisches Ziel vor“, räumt sie ein. „Dass ich hier in Köln bleiben würde, hätte ich nie gedacht. Aber eigentlich hätte es besser nicht kommen können, denn der Dom ist zwar räumlich begrenzt, aber zeitlich?“

Zeitlich nicht. „Wo hat man das in der Archäologie, dass einem 2000 Jahre offen stehen?“ Wenn sie hier abtaucht, dann ist sie voll in ihrem Element.