Bereits Ende des 18. Jahrhunderts begann die Industrialisierung in Murrhardt mit der Gründung einer Baumwollspinnerei. Dies war ein Projekt der Wirtschaftsförderung und Sozialfürsorge, um zahlreichen Familien, die infolge des Stadtbrands 1765 in Armut und Not gekommen waren, wieder Arbeit und Einkommen zu ermöglichen.
Für die Gründung der Baumwollspinnerei und -weberei brauchte der Murrhardter Unternehmer Johann Andreas Heinrich einen langen Atem. Erst fünf Jahre nach seinen ersten Plänen und dem Gesuch wurde das Projekt 1797 genehmigt. Fotos: Carl-Schweizer-Museum/E. Klaper (unten)
Von Elisabeth Klaper
MURRHARDT. Daran erinnert eine Vitrine in der neuen stadtgeschichtlichen Abteilung des Carl-Schweizer-Museums: Ausgestellt sind Weberschiffchen, aber auch Waagen und Gewichte, denn die Walterichstadt avancierte im Lauf des 19. Jahrhunderts zu einem Zentrum der Waagenherstellung. Am Anfang stand jedoch die Textilproduktion. 1792 ersuchte der Murrhardter Handelsmann, sprich Unternehmer, Johann Andreas Heinrich mehrfach den württembergischen Herzog Carl Eugen um Genehmigung zum Betrieb der ersten Fabrik in Murrhardt. Die Murrhardter Stadtverwaltung unterstützte dieses Vorhaben ausdrücklich durch ein Empfehlungsschreiben des Oberamtmanns Wachter, der darin auch die schwierige Situation der Einwohner wegen des Stadtbrands beschrieb.
In seinem Gesuch um Genehmigung berief Handelsmann Heinrich sich auf einen herzoglichen Befehl aus dem Jahr 1789, eine Arbeitsmöglichkeit für Arme zu schaffen, „die offenbar lieber trotz Verbot betteln oder sich als lasterhaften Müßiggang pflegende Kostgänger Brot suchen, als gemeinnützig arbeiten zu wollen“, wie es in einer zeitgenössischen Quelle heißt. Der Unternehmer plante, eine gemeinnützige Baumwollspinnerei und -weberei einzurichten, um armen Einwohnern besonders im Winter eine Arbeits- und Erwerbsmöglichkeit zu geben, damit sie nicht der Fürsorgepflicht der Stadt und Kirchengemeinde zur Last fielen, die mit hohem finanziellem Aufwand verbunden war.
Arme Einwohner sollen eine Erwerbsmöglichkeit erhalten
Als Vorbild nannte Heinrich das gleichartige Projekt des Handelsmanns Ammenmüller in Waiblingen, der vorhatte, etwa 50 Familien zu beschäftigen, und auch unentgeltlichen Unterricht zur Herstellung von Baumwollstoffen erteilen ließ. Denn es sei wichtig, dass schon kleine Kinder lernen, zu arbeiten und sich ihren Lebensunterhalt selbst zu verdienen, argumentierte Ammenmüller schlüssig. So gelang es ihm zwar, den Waiblinger Magistrat als Kollegium der Stadtverwaltung von seinem Projekt zu überzeugen und wohl auch städtische Zuschüsse zu erhalten. Das Unternehmen hatte jedoch nicht den erwünschten Erfolg, weil die Qualität der Ware anscheinend nicht den Erwartungen entsprach.
Ein Hintergrund war, dass die württembergischen Textilmanufakturen um 1800 nicht mit Produkten anderer Nationen mithalten konnten. So vor allem mit den in Mode gekommenen feineren, geschmeidigeren, weicheren und leichteren Baumwollbekleidungsstoffen und Tuchen, die in England industriell produziert wurden. Offenbar wirkte sich die ungünstige Entwicklung des Waiblinger Projekts auch auf die Entscheidung des Herzogs über das Projekt des Murrhardter Unternehmers Heinrich aus. Erst 1797, also fünf Jahre später, konnte dieser seine Pläne für die Einrichtung der Baumwollspinnerei umsetzen.
„Damit ergriff er die Chance, einen sehr gefragten und hoch modernen Bekleidungsstoff herzustellen, wofür er die Fachkenntnis der ländlichen Bevölkerung nutzte“, erklärt Museumsleiter Christian Schweizer. Damals spielte die Schafzucht und die Verarbeitung von Schafwolle eine wichtige Rolle, auch gab es viele Weber im Raum Murrhardt. Webstühle und Spinnräder stellten hauptsächlich zahlreiche Drechslerbetriebe her. „So war fast alles, was man für die Textilproduktion benötigte, vor Ort: Es gab genug Handwerker zur Herstellung der Geräte, Gebäude und viele potenzielle Arbeitskräfte“, verdeutlicht Schweizer. Lediglich die Baumwolle musste importiert werden: Sie kam damals noch nicht aus Amerika, sondern vermutlich aus dem Mittleren Osten, Iran oder Indien, über die Türkei nach Europa.
Das Gebäude der Baumwollspinnerei und -weberei erbaute man auf dem Areal des heutigen Erich-Schumm-Stifts, der Grundstein blieb erhalten und ist im Treppenhaus des Carl-Schweizer-Museums gegenüber der Theke im Eingangsbereich ausgestellt. Im Erdgeschoss des Gebäudes befanden sich die Räume der Manufaktur, darüber waren Wohnungen für die Arbeiter eingerichtet. In der Baumwollspinnerei waren schätzungsweise rund 30 Personen beschäftigt. „In der Mitte des 19. Jahrhunderts, also etwa 50 Jahre später, übernahm Pfarrer Gustav Werner, der damals in die Walterichstadt kam, den Betrieb und integrierte ihn in sein Bruderhauswerk, was durch Akten belegt ist“, erzählt der Museumsleiter.
Später nutzten dieses Gebäude die Strumpfstrickerei Isenflamm und der Waagenfabrikant Eppensteiner. Letzterer stellte um 1870 eine Dampfmaschine auf. 1869 wurde die später bedeutende Waagenfabrik Soehnle an der Ecke von Wallstraße und Fornsbacher Straße im Gebäude der ehemaligen Schlosserei Maier gegründet. In den 1880er-Jahren übernahm die Firma Soehnle die Waagenfabrik Eppensteiner und stellte einen Dieselmotor auf, damals das Modernste, was es gab. „Die Waagenherstellung entwickelte sich aus der Handwerkstradition der Schmiede und Schlosser“, erklärt Schweizer.
Waagenproduktion: Wurzeln im Schmiede- und Schlosserhandwerk
Die älteste, bis heute bestehende Schlosserei betrieb die Familie Schmied-Zügel, heute die Familie Walter. Bedeutend war auch die Schlosserfamilie Nägele mit dem vielseitig gesellschaftlich und politisch engagierten Meister Ferdinand Nägele, der 1848 Abgeordneter im Parlament in der Paulskirche war. „Er setzte sich intensiv auseinander mit dem Schlosserhandwerk, der Ausbildungsordnung, der Kunstschlosserei, der Industrialisierung im Allgemeinen und der Entstehung der metallverarbeitenden Industrie im Besonderen“, hat der Museumsleiter recherchiert.
Infolge der Industrialisierung sattelte die Steinbildhauer- und Maurerfamilie Söhnle, später auch Soehnle, in den lukrativeren Metallsektor um. So entstanden die Waagenfabrik und später die Lüftungsbaufabrik von Julius Söhnle, die auf dem Gelände neben dem heutigen katholischen Gemeindezentrum stand. Überdies gab es in der Walterichstadt mit der Firma Gampper auch einen Spezialisten für die Herstellung von Waagengewichten. Später spezialisierte sich dieses Unternehmen zur Metalldreherei und zum heutigen Armaturenhersteller. In der Walterichstadt gab es im 19. Jahrhundert noch weitere kleinere Waagenfabriken sowie kleine Schlosserwerkstätten, die im Waagenbau tätig waren. Denn: „Im Zuge des Ausbaus von Postwesen und Eisenbahn wurden viele Waagen benötigt, vor allem Güterwaagen“, unterstreicht Christian Schweizer.
Die Möglichkeit zu wiegen wurde im Industriezeitalter immer wichtiger.