Aufstand der Assad-Anhänger
1000 Tote – sunnitische Gruppen begehen in Syrien Massaker
Übergangspräsident Ahmed al-Scharaa kündigt die Bestrafung der Schuldigen an – Aufstand der Assad-Anhänger geht weiter

© dpa/Moawia Atrash
Syrische Streitkräfte rücken in die Dörfer im Umland von Latakia vor.
Von Thomas Seibert
Bewaffnete Kämpfer tauchten in Dörfern an der syrischen Mittelmeerküste auf und trennten die Männer von Frauen und Kindern. Dann erschossen sie alle Männer – allein in drei Ortschaften wurden 69 Menschen getötet, wie die Syrische Beobachtungsstelle für Menschenrechte mitteilte. Mehr als zwei Dutzend weitere Massaker mit insgesamt 745 Toten zählte die Beobachtungsstelle in den vergangenen Tagen im Siedlungsgebiet der alawitischen Minderheit in Syrien. Für die schlimmste Gewalt seit Ende des 13-jährigen Bürgerkrieges im Dezember sind sunnitische Gruppen verantwortlich, die Übergangspräsident Ahmed al-Scharaa und dessen Miliz HTS unterstützen. Scharaa verurteilte die Massaker, doch sein Vorhaben eines friedlichen Übergangs zu einem neuen Staat könnte an seinen eigenen Kämpfern scheitern.
Scharaas Regierung wurde überrascht
Ein Aufstand von Anhängern des früheren Diktators Baschar al-Assad im westsyrischen Alawiten-Gebiet diente der Soldateska als Vorwand für die Massaker. Assad-treue Verbände hatten am Donnerstag die Truppen der Regierung angegriffen und Teile der Küstenprovinz Latakia unter ihre Kontrolle gebracht. Scharaas Regierung wurde von der Rebellion überrascht. Damaskus sei zu sicher gewesen, alles unter Kontrolle zu haben, habe außerdem zu viele andere Probleme und nicht genügend militärische Kapazitäten, sagt Heiko Wimmen, Projekt-Direktor für Irak, Libanon und Syrien bei der Denkfabrik International Crisis Group. In Syrien gebe es hunderttausende Ex-Soldaten des Assad-Regimes, die einen Aufstand anzetteln könnten, sagte Wimmen unserer Zeitung.
Die Beobachtungsstelle für Menschenrechte bezifferte die Gesamtzahl der Opfer von Massakern und Kämpfen auf mehr als tausend. Die Regierung erklärte, sie habe die Lage größtenteils unter Kontrolle, doch die Gefechte gingen am Sonntag weiter. Nach syrischen Regierungsangaben haben die Aufständischen 4000 Mann unter Waffen.
Aufarbeitung hat noch nicht begonnen
Die Alawiten stehen anders als die sunnitische Mehrheit der Syrer dem schiitischen Islam nahe und bildeten unter Assad, der selbst Alawit ist, die Elite des Staates, obwohl sie nur etwa zehn Prozent der 20 Millionen Syrer ausmachen. Eine Aufarbeitung der Verbrechen des Assad-Regimes, das hunderttausende Syrer foltern und töten ließ, ist von der Regierung angekündigt, hat aber noch nicht begonnen. Nach Assads Sturz vor drei Monaten verbot Scharaa seiner islamistischen HTS und anderen radikal-sunnitischen Gruppen, Zivilisten anzugreifen. Bis Donnerstag hielten sich die Truppen der Regierungsseite größtenteils daran.
Dann begann die Rebellion der Assad-Anhänger und der Terror der sunnitischen Milizen in Latakia. Assad-treue Soldaten unter Befehl des ehemaligen Brigadegenerals Ghiath al-Dala riefen dazu auf, Scharaas Regierung zu stürzen. HTS-Kämpfer und andere Truppen rückten in Latakia ein, um den Aufstand niederzuschlagen.
Täter filmten ihre Taten
Die sunnitische Soldateska durchsuchte Häuser und Wohnungen nach Alawiten, sperrte Straßen und erschoss Zivilisten. Eine Bestrafung durch die Regierung fürchteten die Täter offenbar nicht: Einige filmten sich bei den Gewalttaten. Tausende Alawiten und Christen flohen. Manche suchten Schutz auf einem russischen Luftwaffenstützpunkt, andere überquerten die Grenze in den Libanon.
Scharaa rechtfertigte die Offensive gegen die Assad-Anhänger und räumte ein, es habe „übertriebene Reaktionen“ auf den Aufstand gegeben. Die Regierung in Damaskus erklärte, für die Massaker seien Gruppen verantwortlich, die nicht unter ihrem Befehl gestanden hätten, sondern spontan nach Latakia gekommen seien. Regierungstruppen sperrten demnach einige Straßen, um die marodierenden Milizen aufzuhalten.
Selbst wenn Scharaa die Milizen bändigen sollte, haben ihn die Massaker innen- und außenpolitisch geschwächt. Scharaas Forderung, alle nicht-staatlichen Gruppen müssten ihre Waffen abgeben, dürfte bis auf weiteres nicht durchsetzbar sein, weil nicht-sunnitische Minderheiten befürchten, von Milizen angegriffen zu werden. Die Alawiten werden noch weniger als vorher bereit sein, der Führung in Damaskus zu vertrauen; bewaffnete Assad-Anhänger könnten mehr Zulauf bekommen.
Andere Minderheiten sind skeptisch
Auch das Misstrauen anderer Minderheiten in Syrien wird wachsen. Die Drusen im Süden des Landes haben bereits eine Vereinbarung mit Damaskus ausgehandelt, die es ihnen erlaubt, ihre Waffen zu behalten und ihre Region ohne Truppen der Zentralregierung zu verwalten, wie Syrien-Experte Wimmen sagt: „Sie fühlen sich jetzt bestimmt bestätigt.“ Dasselbe gelte für die Kurden im Nordosten Syriens, die sich ebenfalls weigern, ihre Truppen der Regierung zu unterstellen.
International werden die schweren Verbrechen der sunnitischen Milizen den Versuch der syrischen Regierung behindern, die Wirtschaftssanktionen gegen ihr Land möglichst schnell abzuschaffen. Im Westen dürften neue Zweifel aufkommen, ob Scharaa und die HTS wirklich ihrer extremistischen Vergangenheit abgeschworen haben. Auch einige reiche arabische Länder, die für den Wiederaufbau Syriens wichtig sind, misstrauen der HTS, die aus dem Terrornetzwerk Al-Kaida hervorgegangen ist.