Serie Rechtsstaat
37 Schritte in Demut
Richterliche Urteile verändern Leben. Um ihre Unabhängigkeit zu wahren, bleibt geheim, wie die Juristen zu ihrem Urteil kommen. Klar ist aber: Auch in Terrorismusverfahren wollen sie den Angeklagten auf Augenhöhe begegnen.
Von Franz Feyder
37 Schritte liegen vor ihnen. Nacheinander werden sie sie gehen, in einer Reihe. Vorweg Lars Kemmner, dann Kerstin Geist. Herbert Anderer, der Vorsitzende folgt, dann Mathias Mangold. Carolin Bourgun schließt den Reigen. Zwei Richterinnen, drei Richter. Sie sind der 5. Strafsenat des Oberlandesgerichts Stuttgart. Spezialisiert auf so genannte Staatsschutzverfahren. Also Prozesse, in denen der Generalbundesanwalt Straftaten wie Hochverrat, Terrorismus, Strafen nach dem Völkerstrafrecht wie Kriegsverbrechen. Vor allem zwei Dinge unterscheiden solche Prozesse von anderen: Sie sind von hoher politischer Bedeutung. Die Intensität, mit der Polizisten und Staatsanwälte ermitteln, wird kaum in anderen Strafverfahren erreicht.
Anders als in denen kommt es beim Vorwurf des Terrorismus nicht darauf an, dass der Täter seine Ziele in die Tat umsetzt und schwere Gewalttaten wie Mord oder Totschlag begeht. Die Strafbarkeit als Terrorist beginnt lange, bevor er physisch handelt. Nämlich da, wo er Taten mit anderen plant oder vorbereitet.
Sieben Schritte hinter den Fünfen liegt im Gerichtsgebäude Stammheim ihr Beratungszimmer. Hier sind die Richter, wenn die Verhandlung unterbrochen wird: heller, schmuckloser Raum, großer Tisch in der Mitte. Darauf dicke, rote Wälzer – Kommentare zum Strafgesetzbuch. An einer Wand ein Sideboard mit Kaffeemaschine und Tassen. Kein Wort, das hier gesprochen wird, wird in die Öffentlichkeit dringen. Wie sich der einzelne Richter bei der Schuldfrage, beim Strafmaß positioniert, das alles ist geheim.
„Das Beratungsgeheimnis dient dazu, dass wir ohne äußeren Druck und Beeinflussung entscheiden können“, sagt Mathias Mangold. Carolin Bourgun ergänzt: „Wir diskutieren unsere persönliche Sicht auf und über die Rechtslage offen und frei. Dabei wägen wir die Argumente jedes einzelnen Kollegen ab. Diese offenen, ja auch kontroversen Diskussionen in vertrauter Runde führen zu guten Urteilen.“ „Der dienstjüngste Richter trägt seine Vorstellungen bei einer Abstimmung als erstes vor“, beschreibt Anderer die gesetzlichen Vorgaben: „Wenn die Reihe an mir als Vorsitzendem ist, kann es sein, dass die Kollegen längst entschieden haben.“
Noch elf Schritte. Lars Kemmner taucht als Erster in der Tür zum Gerichtssaal auf. Staatsanwälte, Anwälte und Zuschauer stehen auf, Gespräche verebben. „Der Moment, in dem ich mich selbst zur Demut mahne“, sagt Herbert Anderer. „Der Respekt, der uns Richtern da zuteilwird, zu wissen, dass der Senat von jetzt an alles bestimmt, was in diesem Gerichtssaal geschieht, das kann einem auch den Boden unter den Füßen wegziehen. Da ist es gut sich bewusst zu machen, wer man ist und was man tut.“
Die Richter dieses Senates haben das an 173 Prozesstagen im Verfahren gegen die Gruppe S. eindrucksvoll gezeigt: „Einander auf Augenhöhe begegnen“, ist für Mangold die wichtigste Eigenschaft eines Strafrichters. „Im Angeklagten trotz einer vielleicht unerträglichen Tat immer auch den Menschen sehen“, sagt Bourgun. Kaum ein Verhandlungstag, an dem Anderer in der Corona-Zeitdie Angeklagten in den Zellen des Gerichts nicht vor Verhandlungsbeginn besuchte.
Folter, Enthauptungen, Vergewaltigungen – die Richter müssen es ansehen
Manche Dialoge zwischen dem Angeklagten Werner S. und dem Vorsitzenden Anderer hatten Comedycharakter: „Hat jemand sein Auto vor dem Gericht falsch geparkt?“, fragte der Richter. „Ich bestimmt!“, meldete sich S. zu Wort, der sich in Untersuchungshaft befand. Angeklagte, Verteidiger und Richter einendes Lachen hallte durch den Gerichtssaal.
Neun Schritte noch. Die Fünf erreichen den Richtertisch. Zwei Treppenstufen höher. Sieben Neonröhren lang ist der Tisch, helles Holz, Laptop, 13 Bildschirme, sechs schwarze Bürostühle: Fünf für die Richter, einer für die Urkundsbeamtin, die das Protokoll führt.
Was in diesem Saal mitunter angeschaut und -gehört wird, übersteigt die Fantasie vieler Menschen: Folter, Enthauptungen, Vergewaltigungen, Rassismus. „Es gibt Sitzungstage, da ist das schwer auszuhalten“, sagt Lars Kemmner. Seine Kollegen nicken, den Blick auf den Tisch gerichtet. „Mir gibt es Halt, wenn wir nach so einem Verhandlungstag noch einen Augenblick zusammenbleiben und reden“, sagt Anderer. „Es gibt nichts, was Menschen im Namen einer vermeintlichen Wahrheit, der Religion oder einer Ideologie anderen nicht antun. Der Fluch unserer Zeit ist, dass es Menschen gibt, die alles mit ihren Handys dokumentieren und tausend-, ja millionenfach verbreiten: Das beraubt die Opfer ihrer Menschenwürde“, sagte der frühere Präsident des israelischen Nachrichtendienstes Mossad, Schabtai Schawit.
Der Senat verhandelt auch den Polizistenmord von Mannheim
Richter, Staatsanwälte und Verteidiger müssen sich das ansehen, mitgeschnittene Telefonate anhören. Beweis erheben heißt das nüchtern in der Sprache der Juristen. Die Richter des 5. Senates gelten deutschlandweit mit als die Erfahrensten im Staatsschutz: Sie verurteilten einen Islamisten, der Mitglied der Terrorgruppe „Islamischer Staat“ war und ein Attentat auf den Weihnachtsmarkt Karlsruhes geplant haben soll. Ein Vorwurf, den die Richterinnen und Richter in 83 Verhandlungstagen nicht nachweisen konnten. Die mutmaßlichen Rechtsterroristen der Gruppe S. verantworteten sich vor diesem Senat, der teilweise lange Haftstrafen aussprach. Das Urteil ist noch nicht rechtskräftig, weil einige Verurteilte Revision vor dem Bundesgerichtshof eingelegt haben. Ab Donnerstag,13. Februar, wird sich der Afghane vor diesen Richtern verantworten, der im vergangenen Juni in Mannheim den Polizisten Rouven Laur ermordet haben soll. Jeden Sitzungstag werden Anderer und seine Kollegen beginnen mit 37 Schritten in Demut.