Die Tübinger CDU-Abgeordnete Annette Widmann-Mauz verlässt den Bundestag

Ade Berlin

Nach 27 Jahren als CDU-Abgeordnete für Tübingen-Hechingen nimmt Annette Widmann-Mauz, ehemalige Staatsministerin und Vertraute von Angela Merkel, Abschied vom Bundestag.

Im Jahr 2018 wurde Annette Widmann-Mauz von der Kanzlerin Angela Merkel  zur  Staatsministerin ernannt.

© Bundesregierung Sandra Steins, privat

Im Jahr 2018 wurde Annette Widmann-Mauz von der Kanzlerin Angela Merkel zur Staatsministerin ernannt.

Von Gerlinde Wicke-Naber

Am Tag zwei nach der Bundestagswahl herrscht ein kunterbuntes Chaos im Büro von Annette Widmann-Mauz im Paul-Löbe-Haus direkt neben dem Berliner Reichstagsgebäude. Viele CDU-Abgeordnete haben hier ihr Büro, ein unterirdischer Tunnel führt direkt in den Parlamentssaal. Normalerweise herrscht bei der Tübinger CDU-Abgeordneten strenge Ordnung. Doch nun stehen halb gepackte Kisten, in Papier eingewickelte Figuren und Aktenberge wild durcheinander. Ein Container wartet darauf, befüllt zu werden mit alldem, was sie für überflüssig hält oder aus Sicherheitsgründen entsorgt werden muss.

Noch steht der auf dem Kopf balancierende Berliner Bär auf ihrem Schreibtisch. Die weiße Porzellanfigur hat eine besondere Bedeutung: „Den haben mir CDU-Frauen geschenkt, weil auch ich oft Kopfstände gemacht habe, wenn ich etwas erreichen wollte.“ Seit acht Jahren ist sie Bundesvorsitzende der Frauen-Union. Den Porzellanbär darf keine ihrer Mitarbeiterinnen anfassen. Den packt sie persönlich ein. Künftig wird das Erinnerungsstück auf ihrem Schreibtisch im heimischen Balingen stehen. Dort lebt Annette Widmann-Mauz mit ihrem Mann, einem Bio-Bauern.

Ganze 27 Jahre lang vertrat sie den Wahlkreis Tübingen-Hechingen im Bundestag. Bereits im Sommer vergangenen Jahres hatte sie angekündigt, nicht erneut kandidieren zu wollen. Der Schnitt. Als sie 1998 anfing, tagte das Parlament noch in Bonn. Eher behäbig ging es in den ersten zwei Jahren unter der „Bonner Glocke“ zu. „Wenn es eilig war, schickten wir ein Telegramm“, erinnert sie sich. Dann setzte sich das Fax durch, die Zeit der Handys begann. Mit dem Umzug im Jahr 2000 ins hektische Großstadtleben Berlin änderte sich auch das Tempo im politischen Betrieb. „Heute ist alles viel schneller.“ Statt Postfächer mit Pressemitteilungen für die Journalisten verbreitet jeder Abgeordnete seine Mitteilungen über die sozialen Netzwerke.

Auch im parlamentarischen Alltag hat sich in den fast drei Jahrzehnten viel verändert. Die Zusammensetzung des Bundestags ist vielfältiger geworden. Mehr jüngere Leute sind jetzt vertreten. „Damit ist alles lockerer, lässiger geworden im Umgang miteinander, das sehr Formelle der Anfangsjahre ist verschwunden.“ Transparenter sei die Arbeit der Parlamentarier heute: „Es gibt Listen mit Lobbyisten, die sich in Berlin tummeln.“ Vieles habe sich zum Positiven verändert, aber jede Neuerung berge auch Negatives. „So fehlt heute manchmal ein Rückzugsraum, um Dinge in Ruhe zu besprechen.“ Auch die Schnelligkeit in der Kommunikation sei nicht immer nur von Vorteil. Und deutlich rauer sei der Ton geworden, stellt sie fest – vor allem, seit die AfD vertreten ist.

Widmann-Mauz war mehr als eine einfache Abgeordnete. Ihr Spezialgebiet ist die Gesundheitspolitik. Von 2009 bis 2018 als Parlamentarische Staatssekretärin im Gesundheitsministerium hat sie unter anderem das Palliativgesetz für die Versorgung schwerst kranker und sterbender Menschen auf den Weg gebracht. Darauf ist sie besonders stolz. „Wir haben es bei der Entwicklung ganz anders gemacht als üblich und nicht nur Experten, sondern auch Leute aus der Praxis beteiligt.“ 2015 wurde das Gesetz mit einer großen Mehrheit aller Fraktionen verabschiedet.

Rebellische Ärzte

Weniger harmonisch verlief einige Jahre zuvor die Gesundheitsreform, in der Zuzahlungen bei Medikamenten und eine Praxisgebühr für Patienten eingeführt wurden. Damals war Widmann-Mauz die gesundheitspolitische Sprecherin ihrer Fraktion und die SPD-Frau Ulla Schmidt war Gesundheitsministerin. Widmann-Mauz erinnert sich an eine Veranstaltung in Tübingen mit 400 bis 500 Ärzten, die sehr aufgebracht und teils aggressiv gegen die neuen Pläne rebellierten. Sie aber blieb bei ihrer Position. Etwas, von dem man überzeugt ist, auch gegen Widerstände durchzusetzen, das gehöre zur Politik, sagt sie. Genugtuung bereitete ihr dann 15 Jahre später ein Arzt, der ihr sagte: „Ich war damals bei der Versammlung dabei und sehr wütend. Aber heute muss ich sagen: Es ist alles so gekommen, wie Sie es gesagt haben.“

Widmann-Mauz wird ein enges Verhältnis zur früheren Kanzlerin Angela Merkel nachgesagt. Diese machte sie 2018 zur Staatsministerin und zur Beauftragten der Bundesregierung für Migration, Flüchtlinge und Integration. In dieser Funktion hat Annette Widmann-Mauz viele Projekte angestoßen. Etwa das Projekt „Shalom aleikum“, das sie gemeinsam mit dem Zentralrat der Juden entwickelt hat. Kernstück dabei ist der jüdisch-muslimische Dialog innerhalb ganz verschiedener Bevölkerungsgruppen. Der Auftakt war in Berlin-Kreuzberg die Begegnung zwischen jüdischen und muslimischen Start-up-Unternehmern. „Da saßen gestandene Männer am Tisch und weinten, weil sie merkten, dass sie Angst voreinander hatten und doch so viele gemeinsame Erfahrungen teilten. Ein sehr bewegender Moment für mich.“

Den Dialog hat sie immer hoch gehalten. Dazu gehöre bei aller Distanzierung und allen kontroversen Debatten ein konzilianter Ton. „Man muss sich später wieder in die Augen schauen können.“ Nur mit der AfD lehnt Widmann-Mauz jede Zusammenarbeit ab. Sie gehört zu jenen zwölf Abweichlern der Union, die der Abstimmung für das Zustrom-Begrenzungs-Gesetz, das Friedrich Merz eingebracht hatte, ferngeblieben sind.

Warum? „Wir hatten nach dem Zerfall der Ampel mit den anderen Parteien vereinbart, dass wir in keine Situation kommen, in der uns Extreme die Tagesordnung diktieren können. Daran habe ich mich gehalten, „ganz unabhängig vom Anliegen.“ Auch Widmann-Mauz ist der Meinung, dass sich in der Migrationsfrage etwas bewegen muss. „Aber nicht jedes Mittel heiligt den Zweck. Und es war keine Not für so eine Abstimmung.“

Wie ist ihr Verhältnis zu Merkel heute?

Angela Merkel, zu der sie ein Vertrauensverhältnis hatte, ist längst weg. Nun wird mit Friedrich Merz einer ihrer einst schärfsten Kritiker Kanzler. Der eigentliche Grund für den Rückzug von Annette Widmann-Mauz? Sie wägt ihre Antwort ab: „Ich halte Friedrich Merz für den richtigen Mann in der jetzigen Situation und politischen Weltlage.“ Dann fallen Stichworte wie „Ukrainekrieg, Donald Trump, Wladimir Putin, Wirtschaftskrise“. Merz sei der richtige, um mit diesen Problemen und Personen umzugehen und ihnen Paroli zu bieten, davon ist sie überzeugt.

Trotzdem will sie nicht mehr mitmachen. „Es beginnt eine neue Ära, die mit einer Maskulinisierung einhergeht“, erklärt Annette Widmann-Mauz. Als sie damals als 32-Jährige begann, sei sie auch in eine neu anbrechende Ära hineingewachsen. „Und jetzt ist es an der Zeit, dass neue Leute das Ruder in die Hand nehmen.“

Widmann-Mauz wirkt kein bisschen verbittert, sondern sehr zufrieden mit ihrer Zeit und Karriere im Bundestag. Ganz im Reinen mit sich. Gibt es nicht doch etwas, das sie bedauert? Lange überlegt sie, schüttelt dann den Kopf. „Es war gut so.“

Wie ist ihr Verhältnis zur früheren Bundeskanzlerin heute? Annette Widmann-Mauz lacht: „Nicht so, wie es sich offenbar viele Leute vorstellen, die mir immer wieder schreiben und glauben, ich würde täglich Befehle von Angela Merkel empfangen.“ Eher locker sei ihr Kontakt zu der früheren Chefin. „Wenn wir uns sehen, grüßen wir uns und wechseln vielleicht auch mal ein paar Worte.“ Aber Angela Merkel habe sich doch sehr zurückgezogen aus der Tagespolitik.

Und sie selbst? Wird der Rückzug aus dem Bundestag auch der Abschied aus der Politik? „Nein“, sagt Widmann-Mauz energisch. „Ich bin und bleibe ein politischer Mensch.“ Das habe schon als Kind begonnen, wenn die Familie am Abendessenstisch über Politik diskutierte. Mit 18 trat sie in die CDU ein, nachdem sie ausgiebig die Programme der Christdemokraten, der SPD und der Grünen studiert hatte. Bei der CDU waren es Heiner Geißler und Rita Süssmuth und deren soziales Engagement, die die gläubige Katholikin angezogen haben. Auch künftig möchte sie politisch aktiv bleiben, in welcher Form auch immer. „Das kann auch ein Ehrenamt sein.“ Jedenfalls fühlt sich die 58-Jährige jung genug, um noch einmal etwas Neues zu beginnen.

Weniger optimistisch sieht sie die Zukunft ihres Wahlkreises. Der Frust über den verpassten Einzug ihres Nachfolgers sitzt noch tief. Christoph Naser hat zwar mit 31 Prozent die meisten Erststimmen erhalten, zog aber wegen der geänderten Wahlrechtsreform trotzdem nicht in den Bundestag ein. Auch Widmann-Mauz wäre es wohl nicht anders ergangen, wäre sie angetreten.

Besonders ärgerlich: Auch kein Kandidat der anderen Parteien im Kreis – alles Neulinge – schaffte den Sprung nach Berlin. Statt bisher vier Abgeordnete hat der Wahlkreis Tübingen-Hechingen künftig keinen einzigen Vertreter mehr in Berlin. „Das ist ein absolut unakzeptabler Zustand“, sagt Widmann-Mauz. Keine Schulklasse, die den Bundestag besichtigen wolle, habe nun einen direkten Ansprechpartner.

Sondersitzungen zum Thema Schuldenbremse

Und wenn es um für Tübingen wichtige Fragen geht, wer solle dann in den Berliner Ministerien intervenieren? Als Beispiel nennt sie den Ausbau der B28. „Wie viele Hintergrundgespräche habe ich geführt und immer wieder nachgehakt. Dafür gibt es jetzt niemanden mehr.“ Sie hofft, dass das Wahlrecht in vier Jahren, bei der nächsten Bundestagswahl, wieder geändert ist. Bis dahin, verspricht sie, werde Christoph Naser den Tübingern und Hechingern bei Fragen und Problemen zur Verfügung stehen und deren Anliegen zu Kollegen nach Berlin weiterleiten.

Sie selbst macht sich weiter ans Aufräumen und Packen. Trotz aller Abgeklärtheit kommt dabei ein wenig Wehmut auf. Beim Sortieren entdeckt sie so manches Foto und Schriftstück, das Erinnerungen an alte Zeiten weckt. Einiges davon wird sie mit nach Balingen nehmen.

Widmann-Mauz wird ohnehin noch mal zurückkehren in ihr leeres Büro – für zwei Sondersitzungen zum Beschluss der Grundgesetzänderung zur Schuldenbremse. Selbstverständlich nimmt sie daran teil: „Als Abgeordnete habe ich Verantwortung bis zum letzten Tag meines Mandats.“

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Erstellt:
17. März 2025, 20:12 Uhr

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