6000 Jahre alte Siegel-Figuren

Älteste Wurzeln der Schrift stammen aus Mesopotamien

Wie entstand die älteste Schrift der Welt? Entscheidende Hinweise darauf haben Archäologen jetzt auf 6000 Jahre alten Tonsiegeln der antiken Stadt Uruk in Mesopotamien gefunden.

Die Figuren auf diesem rund 6000 Jahre alten mesopotamischen Siegelzylinder könnten die frühesten Vorläufer der Schrift sein.

© © 2001 GrandPalaisRmn/Musée du Louvre/Franck Raux

Die Figuren auf diesem rund 6000 Jahre alten mesopotamischen Siegelzylinder könnten die frühesten Vorläufer der Schrift sein.

Von Markus Brauer

Die Erfindung der Schrift war einer der Meilensteine der Menschheitsgeschichte. Die standardisierten Symbole ermöglichten eine effiziente Kommunikation über weite Entfernungen hinweg, halfen bei der Auszeichnung von Waren oder dem Niederschreiben von wichtigen Begebenheiten und Erkenntnissen.

Frühe Formen der Schrift gab es vor rund 5000 Jahren in der Indus-Kultur und in Ägypten. Vor rund 4000 Jahren entwickelten die Minoer gleich zwei bisher nicht entzifferte Schriftsysteme, die als die ältesten Europas gelten.

Uruk – Mega-Metropole der frühen Antike

Uruk oder Ur war einst die größte Stadt auf dem Erdball. Um 3500 v. Chr. lebten mehr als 50 000 Menschen in den Ziegelmauern der frühantiken Mega-City. Die Metropole am Ufer des Euphrat bildete das Zentrum des legendären Sumerer-Reiches und umfasste neben Wohngebäuden, Werkstätten und Palästen mehrere große Tempel.

Uruk, das heutige Tall al Warkā’, liegt etwa 20 Kilometer östlich des Euphrats. Im Altertum lag die mesopotamische Stadt direkt am Fluss. Sie ist einer der bedeutendsten Fundorte im Zweistromland und namensgebend für die Uruk-Zeit (etwa 3500 bis 2800 v. Chr.). Bereits im ausgehenden 4. Jahrtausend v. Chr. war Uruk eines der politisch führenden Zentren der sumerischen Frühzeit.

Das berühmteste Bauwerk der gewaltigen Stadt am Euphrat war die Zikkurat des Mondgottes Nanna, ein gestufter Tempelturm mit einer Basislänge von 62,5 mal 43 Metern bei einer Höhe von 25 Metern.

Die Überreste dieses Stufentempels liegen im Süden des heutigen Irak, 15 Kilometer westlich der Großstadt Nasiriya. Er wurde von den Sumerern unter der Herrschaft des Königs Ur-Nammu und seines Sohnes Šulgi vor über 4000 Jahren erbaut.

Wie entstand die Proto-Keilschrift?

In Uruk wurde auch die erste Schrift – die sogenannte Proto-Keilschrift – entwickelt. Dort nutzten die Menschen schon vor mehr als 5600 Jahren standardisierte Symbole, die sie in den feuchten Ton von Siegeln, kugelförmigen Etiketten und Schrifttafeln prägten.

Mit diesem Schreibsystem wurden die archaischen Texte aus der späten Uruk-Zeit bis hin zur beginnenden frühdynastischen Zeit geschrieben – also die Schrift der sumerischen Texte um ca. 3200 v. Chr. bis 2700 v. Chr.

Damit gilt die Proto-Keilschrift als ältestes Schriftsystem der Welt. Es sind bisher 5820 archaische Texte bekannt, die meist auf Ton-, aber auch auf Stein- und Gipstafeln zu finden sind.

System von hunderten ikonografischen Zeichen

„Diese Proto-Keilschrift ist auf Tontafeln in Uruk um 3350 bis 3000 v. Chr. nachweisbar“, berichten Kathryn Kelley und ihre Kollegen von der Universität Bologna in Italien. „Damals gab es dort bereits ein komplexes System von hunderten ikonografischen Zeichen, von denen viele noch nicht entschlüsselt sind.“ Ihre Studie ist im Fachmagazin „Antiquity“ erschienen.

Read the original article in Antiquity Seals and signs: tracing the origins of writing in ancient South-west Asia - Kathryn Kelley, Mattia Cartolano & Silvia Ferrara.https://t.co/Ze695wjvIF 17/17 pic.twitter.com/oDyGTRCNeP — ntiquity Journal (@AntiquityJ) November 5, 2024

Schon länger vermuten Archäologen, dass sich diese erste Proto-Keilschrift aus figürlichen Vorläufern entwickelt hat. Als Kandidaten dafür gelten die Symbole auf mesopotamischen Zählmarken, mit denen Waren und Gütermengen gekennzeichnet wurden. Auch die Figuren auf mesopotamischen Siegelzylindern könnten Vorläufer der späteren, stark stilisierten Keilschrift-Runen gewesen sein.

Motiv-Vergleich von Siegelzylindern und Schriftsymbolen

„Die enge Beziehung zwischen den Siegeln und der Erfindung der Schrift in Südwestasien wurde schon früh erkannt. Unklar war aber, wie spezifische Siegelbilder mit den Proto-Keilschrift-Symbolen zusammenhängen“, erklärt Seniorautorin Silvia Ferrara.

Sie und ihr Team haben deshalb die Motive auf mesopotamischen Tonsiegeln aus Uruk noch einmal systematisch mit den bisher bekannten rund 800 Proto-Keilschrift-Symbolen verglichen.

„Wir konzentrierten uns dabei auf die Siegel-Motive, die schon vor Erfindung der Schrift existierten“, erläutern die Archäologen. Weil die Interpretation der Bilder und ihrer möglichen Bedeutung zudem oft schwierig und mehrdeutig ist, bezogen sie den inhaltlichen Kontext der Siegel und Proto-Keilschrift-Symbole mit ein.

„Stange mit Netz“ und Fransentuch

Tatsächlich wurden die Archäologen fündig. „Wir haben eine Reihe von Siegelmotiven aus dem Kontext des Textilhandels und der Keramikherstellung identifiziert, aus denen später entsprechende Proto-Keilschrift-Symbole entstanden“, berichtet Kelley.

So findet sich ein häufig zusammen mit Rinder-Abbildungen auf den Siegeln erscheinendes fächerartiges Objekt auch in der Proto-Keilschrift wieder. Dort erscheint dieses „Stange mit Netz“-Symbol ebenfalls meist gemeinsam mit den Schriftsymbolen für Rinder.

„Ein ähnlich überzeugender Fall für die Umwandlung vorschriftlicher Verwaltungssymbole in Proto-Keilschrift findet sich bei einem weiteren Motiv-Paar“, berichten die Archäologen. Dabei handelt es sich um die Siegel-Darstellung eines Tuchs mit Fransen, aus dem später das Keilschriftsymbol für „Leinen“ wurde. Ein anderes Motiv zeigt ein Gefäß mit Netzstruktur, das der Vorgänger des Keilschrift-Symbols für Gefäße mit Ölen sein könnte.

Zeugnis für den Übergang zur Schrift

Damit belegen diese Übereinstimmungen zum ersten Mal eine direkte Verbindung zwischen dem System der Siegelzylinder und der Erfindung der Schrift.

„Unsere Funde demonstrieren, dass die auf die Siegelzylinder gravierten Motive direkt mit der Entwicklung der Proto-Keilschrift im Südirak verknüpft sind“, betont Ferrara. Die entdeckten Übereinstimmungen geben zudem Einblick darin, wie sich die Bedeutung der Motive veränderte, als sie Teil der Schrift wurden.

„Der konzeptuelle Sprung vom vorschriftlichen Symbolismus zur Schrift ist eine bedeutende Entwicklung in den kognitiven Technologien der Menschheit“, berichtet Ferrara. „Die Erfindung der Schrift markiert den Übergang zwischen Vorgeschichte und Geschichte – und die Resultate unserer Studie illustrieren, wie dieser Übergang stattfand.“

Gleichzeitig könnten die Parallelen zwischen Siegelmotiven und Proto-Keilschrift auch dabei helfen, einige der noch nicht entschlüsselten Symbole zu entziffern.

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Erstellt:
9. November 2024, 13:06 Uhr

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