Kolumne Anna Katharina Hahn
Alter, sagt die Tasse, brumme nicht!
Ein langweiliger Sonntag mit Einlaufsuppe in Stuttgarts Hinterland
Von Anna Katharina Hahn
Die Tasse, dünnwandig, dickbauchig und mit einer verblassten Blumengirlande geschmückt, war wie geschaffen dafür, meine gerade erlernten Lesekünste auszuprobieren. Der Schriftzug lief ringsum, in abgeschabten, vergoldeten Buchstaben, die mir das Entziffern dadurch erschwerten, dass es Frakturtypen waren, eine Schrift aus dem Märchenbuch, bei der das kleine S und das F in der Wortmitte sich kaum unterscheiden. Doch dieser Satz, am Ende mit einem Ausrufezeichen verstärkt, brachte mich nicht ins Stolpern, und ich konnte ihn stolz buchstabieren: „Alter, brumme nicht!“
Explodiertes Sauerkraut
Erst nach dieser Leistung bemerkte ich angeekelt die Kaffeeschlieren am Rand, die Krümel auf der Untertasse und begann zu grübeln, was die Worte eigentlich bedeuten sollten. Von den Erwachsenen war keine Hilfe zu erwarten. Im verkruschtelten Haus der Urgroßmutter in Sulzbach an der Murr ging es zu wie an jedem Besuchstag: Mein Vater hatte das Stethoskop um den Hals, legte nacheinander einer Schar struppiger älterer Leute, Großonkeln und -tanten, die Blutdruckmanschette an und versorgte seine Verwandtschaft geduldig mit ärztlichem Rat.
„Was heißt ‚Alter, brumme nicht‘?“ piepste ich mehrfach, aber natürlich hörte niemand zu, und ich wandte mich enttäuscht ab, zumal der Vater jetzt die Hand gehoben hatte, um jene Ruhe einzufordern, die zum Messen des Blutdrucks nun einmal nötig ist.
Warum war ich nur wieder mitgekommen? Im Sulzbacher Treppenhaus herrschte Eiseskälte, in der Küche wurde noch auf einem Holzherd gekocht. Schon wegen des Feuers in den schwarzen Ofenlöchern und hinter der eisernen Klappe erschien sie mir als ein hochgefährlicher Ort, aber am schlimmsten war der riesige hellbraune Fleck an der Decke, der von einem explodierten Schnellkochtopf voller Sauerkraut herrührte und nie überstrichen wurde.
Bruddeln nicht erwünscht
Unheimlich, aber auch faszinierend waren die Bewohner, allen voran die dünne, weißhaarige Urgroßmutter, der ich meinen Vornamen verdanke, aber auch Bärbel, die betagte Dackeldame oder Onkel Helmut mit seiner Beinprothese aus dem Krieg. Alle waren freundlich zu mir, aber überall roch es grässlich und als die in einen geblümten Schaffschurz gekleidete Großtante zu Mittag „Ei’laufsupp“ ankündigte, wollte ich am liebsten schnell zurück nach Stuttgart.
Meine Mami hätte so etwas Fatales niemals auf den Tisch gebracht. Trotzdem blieben wir zum Essen, die Sprechstunde ging irgendwann zu Ende, die Einlaufsuppe entpuppte sich als mit Petersilie bestreute Kraftbrühe mit Einlage, auch die Spätzle mit Soß’ brachte ich runter. Gegessen wurde im Wohnzimmer, die plüschige Tischdecke mit Kreuzstich war fleckig. Schließlich tauchte auch die Tasse wieder auf, aus der Onkel Helmut seinen Kaffee schlürfte. „Des hoißt, dass mr ned bruddle soll“, erklärte er, und ich war’s zufrieden.