Andreas Braun muss lange hinter Gitter
Die 20. Wirtschaftsstrafkammer des Landgerichts Stuttgart verurteilt den ehemaligen Klinikum-Abteilungsleiter zu vier Jahren und neun Monaten Gefängnis und geht damit über die Forderung der Staatsanwaltschaft hinaus. Die Verteidigung geht in Revision, die Anklage prüft das.
Von Jörg Nauke
Stuttgart - Ungläubiges Staunen allerorten im Saal 6 des Landgerichts Stuttgart, als am Donnerstagmorgen der Vorsitzende der 20. Wirtschaftsstrafkammer, Hans-Jürgen Wenzler, das Urteil im Korruptionsprozess gegen den angeklagten Andreas Braun verkündete. Weder der bis 2016 für die Betreuung ausländischer Privatpatienten im Klinikum Stuttgart verantwortliche Abteilungsleiter und seine Verteidiger noch der Staatsanwalt hatten damit gerechnet, dass die Kammer wegen versuchten Betrugs, Untreue und Bestechlichkeit in 20 Fällen eine Freiheitsstrafe von vier Jahren und neun Monaten im Zusammenhang mit den Projekten Libyen und Kuwait aussprechen würde. Schon die Forderung der Anklage – drei Jahre und zehn Monate – erschien den Anwälten Frank Theumer sowie Wolfgang Linder wegen der Umstände, die das Urteil mildern können, unverhältnismäßig hoch.
Die lange Verfahrensdauer von zehn Jahren, die deshalb angegriffene Gesundheit des 60-jährigen Angeklagten, der aus ihrer Sicht nicht vorhandene finanzielle Schaden, vor allem aber seine Bereitschaft, in 15 Vernehmungen und als Zeuge an drei Verhandlungstagen sich an der Aufklärung zu beteiligen, sollte ihrem Mandanten dazu verhelfen, nicht erneut ins Gefängnis zu müssen. Braun saß 2018 bereits fünf Monate in Untersuchungshaft. Ein Wirkungstreffer, in dessen Folge er privat, beruflich und wirtschaftlich am Boden lag und noch heute in den Seilen hängt.
Verteidiger Frank Theumer war nach der zweistündigen Urteilsverkündung bedient. Den Revisionsantrag habe er schon der Tasche, sagte er. Die Strafe sei viel zu hoch, die Begründung nicht nachvollziehbar. Und er sprach von einem „persönlichen Urteil“ des Vorsitzenden Richters, der Braun eine starke kriminelle Energie attestierte. Dazu muss man wissen, dass Wenzler Braun kürzlich bei der Verlesung des Urteils über zwei Mitarbeiterinnen als Haupttäter bezeichnet hatte. Das führte zu einem Befangenheitsantrag der Kammer wegen Voreingenommenheit, dem nun ein zweiter – auch abgelehnter – gegen Wenzler folgte, weil sich der bei seiner Recherche zu Brauns ärztlichen Attesten gegenüber dessen Psychiaterin, die aus Osteuropa stammt, ausländerfeindlich geäußert und sie bedroht haben soll.
Der Richter betonte, die Angriffe bei der Urteilsfindung ausgeblendet zu haben. Er zählte die seit Ende 2023 erörterten Straftatbestände auf. In vier Fällen hat Braun nicht fürs Klinikum Geld verdient, sondern in die eigene Tasche gewirtschaftet, indem er über seine Firma Scheinrechnungen für rund 63 000 Euro ausstellte. Brauns Problem: Obwohl die meisten Ausgaben für die nötige Logistik der Projekte nachvollziehbar sind, gibt es dafür keine saubere Vertragsgrundlage, sie sind aus Sicht des Gerichts deshalb unzulässig. Fatal für Braun ist auch, dass die Kammer den libyschen Botschafter als Verantwortlichen betrachtet und nicht den mit ihm verbandelten Kommandanten der „Guerillatruppe“ aus Misrata, der hohe Beträge für sich reklamierte und Braun deshalb alles bestätigt habe, was der für nötig erachtete.
1000 Ordner mit Beweismitteln stehen der Kammer zur Verfügung. Sie machten sich seit Anfang 2022 an die Lektüre. Zuerst saßen drei Patientenvermittler auf der Anklagebank, die für die aus dem Ruder gelaufenen Projekte – es ging bei Libyen um 19 und bei Kuwait um 46 Millionen Euro – Vermittlungsprovisionen erhielten oder als Logistiker Leistungen erbrachten. In dieser Hinsicht machte das Gericht aber keinen Unterschied. Zwei Deutsche mit palästinensischen Wurzeln wanderten für bis zu fünf Jahre hinter Gitter. Der Dritte, ein bundesweit agierender Unternehmer, kam überraschend mit einer sechsstelligen Geldauflage davon.
Sowohl beim Projekt mit der libyschen Botschaft wie mit dem kuwaitischen Gesundheitsministerium hätten im Klinikum außerhalb von Brauns Abteilung die Alarmglocken klingeln müssen. Es war unmöglich, 372 Kriegsversehrte ambulant zu behandeln, ohne deren Verpflegung und Unterkunft während des mehrmonatigen Aufenthalts vertraglich abzusichern. Im Gegenzug wurde dann versucht, der Botschaft überhöhte Behandlungsrechnungen unterzuschieben. Das war im Klinikum bekannt. Einige Chefärzte verdienten sich dabei eine goldene Nase. Braun wehrt sich gegen den Vorwurf, die durchaus üblichen Sonderzuschläge für die Ausländer erfunden zu haben. Einige habe es lange vor dem Libyenprojekt gegeben. Diese ins SAP-System einzupflegen, bedurfte der Zustimmung verschiedener Stellen. Er hätte das gar nicht selbst gekonnt.
Ständig fünf Orthopäden in Stuttgart für entbehrlich zu erachten, um sie zum Operieren nach Kuwait zu schicken und dies vertraglich in arabischer Sprache zu fixieren, war ebenfalls ein Irrsinn. Die Bedingungen waren Brauns Vorgesetzten aber zuvor bekannt. Und dass es bei Geschäften in arabischen Staaten oft notwendig ist, mit Bakshish die Umsetzung zu beschleunigen, gehört zum Allgemeinwissen. Deshalb hätten die Geschäftspartner aus Kuwait 2011 nie auf Empfehlung des Krankenhausbürgermeisters Klaus-Peter Murawski (Grüne) einen Fuß ins Büro des damaligen OB Wolfgang Schuster (CDU) setzen dürfen.
Sowohl an der Rathausspitze wie in der Geschäftsführung pflegte man Distanz, ließ Braun machen, bis es nicht mehr ging. Die Steuerfahndung brachte an den Tag, dass kollektive Verantwortungslosigkeit und organisatorisches Chaos im Klinikum – nicht nur in der Internationalen Abteilung – Brauns Vorgehen begünstigten. Zeugen bestätigten Unfassbares: In der Finanzabteilung wurden sogar Bedenken zurückgestellt, wenn auf Fresszetteln Gelder in sechsstelliger Höhe gefordert wurden – solange darauf „sachlich und rechnerisch richtig“ stand.