„Auch wir wollen keine Indizien verwischen“

Interview Aline Kottmann vom Landesamt für Denkmalpflege begleitet als Archäologin Rettungsgrabungen mit Funden wie dem Skelett in Murrhardt, das als Puzzleteil für größere Zusammenhänge wichtig ist. Damit verbunden sind auch Fragen wie Archivierung oder Wiederbestattung.

Aline Kottmann betreut den Skelettfund in Murrhardt als Archäologin. Die Fundstelle liegt nur ein paar Schritte von der Stadtmauer und der Stadtkirche entfernt. Sie ist mittlerweile wieder verschlossen. Foto: Stefan Bossow

© Stefan Bossow

Aline Kottmann betreut den Skelettfund in Murrhardt als Archäologin. Die Fundstelle liegt nur ein paar Schritte von der Stadtmauer und der Stadtkirche entfernt. Sie ist mittlerweile wieder verschlossen. Foto: Stefan Bossow

In einem Fall wie dem Murrhardter Skelettfund tauchen beim Laien Fragen auf, wie sie auch bei einem Krimi gestellt werden könnten. Sind das Knochen eines Menschen? Liegt ein Verbrechen vor? Wie nah ist ihr Vorgehen zu Beginn dem einer Tatortkommissarin?

Das habe ich mir noch nie überlegt, aber ich würde sagen, da gibt es schon ein paar Parallelen. Auch wir betreiben eine Art Spurensicherung und wollen keine Indizien verwischen, die uns bei der Rekonstruktion eines Ereignisses oder in Bezug auf eine historische Infrastruktur weiterhelfen würden. Der Unterschied ist, dass dies bei unserer Arbeit nicht alles so offensichtlich vor uns liegt wie vielleicht bei einem Tatort. Wir müssen viele Erdschichten abtragen und das birgt immer das Risiko, einen Teil der Indizien zu vernichten. Jede Ausgrabung bedeutet die Beseitigung archäologischer Substanz. Das heißt, ich muss entscheiden, was kann ich entfernen und was muss ich zuvor dokumentieren. Ein Unterschied ist, dass die Polizei den Tatort so lange absperrt, bis die Indiziensicherung abgeschlossen ist. Bei einer Rettungsgrabung muss das schneller laufen. Eine Befundsituation, bei dem ein Verbrechen Thema war, hatte ich in meiner Laufbahn aber noch nie.

Was ist eine Rettungsgrabung?

Im Vergleich zu gezielten archäologischen Forschungsgrabungen geht es dabei darum, etwas Entdecktes zu retten, bevor dessen drohende Zerstörung, etwa durch die Erstellung einer Baugrube, erfolgt. In den meisten Fällen hält man die Zerstörung und damit das Bauvorhaben nicht auf. Der Erhalt vor Ort ist die Ausnahme und braucht einen sehr wichtigen Grund. Ein Beispiel wäre das Kastell in Welzheim. Es geht darum, den Befund möglichst dreidimensional zu dokumentieren, Funde zu bergen und Proben zu entnehmen. Alle Funde werden aufbewahrt, um sie gegebenenfalls nochmals zu untersuchen.

Bei dem Murrhardter Skelett sollen die Knochen in Bezug auf Alter und Geschlecht unter die Lupe genommen werden. Wie wird da vorgegangen?

Das übernehmen in diesem Fall Anthropologen als Fachleute, wenn die Knochen gereinigt sind. Die Knochen weisen bestimmte Merkmale auf, die aufs Geschlecht hindeuten, vorwiegend am Becken, aber auch am Schädel. Das weibliche Schambein des Beckens sieht anders aus und man kann sogar sehen, ob die Frau Kinder geboren hat.

Wie funktioniert das beim Alter?

Das Alter lässt sich relativ genau bestimmen, wenn man über alle Knochen verfügt. Zwischen Gelenk und Knochen gibt es die Epiphysenfuge, die sich ab einem gewissen Alter schließt und verknöchert. So lässt sich relativ gut eingrenzen, wie lange dieser Mensch gelebt hat, bis auf Jahrzehnte genau. Geht es um ein Kind oder einen Jugendlichen, zieht man die Zähne heran. Die Abnutzung von Knochen und Zähnen gibt ebenfalls Hinweise, auch viele Krankheiten schlagen sich im Knochenbild nieder – wie beispielsweise Typhus.

Wichtig ist auch zu wissen, wann dieser Mensch gestorben ist. Das lässt sich mit einer Radiokarbonanalyse eingrenzen. Können Sie diese kurz erläutern?

Grundlage ist der Zerfall eines radioaktiven Kohlenstoffisotops, wenn ein Lebewesen stirbt. Über die Halbwertszeit des Isotops in organischen Materialien lässt sich zurückrechnen, wie lange der Mensch oder das Tier beziehungsweise die Pflanze tot ist. Auch da gibt es Unschärfen, die mit Außeneinwirkungen in modernerer Zeit zusammenhängen. Unter Umständen lässt sich die Sterbezeit nur auf einen sehr großen Zeitraum von beispielsweise 200 Jahren eingrenzen. Das bringt dann recht wenig.

Was lässt sich zum Murrhardter Skelettfund über das bisher Bekannte hinaus sagen?

Ich habe mir die Grabungsdokumentationen der Klosterkirche angeschaut und es hat sich herausgestellt, dass es nördlich einer Vorgängerkirche des jetzigen Baus bereits Außenbestattungen gab. Insofern könnte es gut sein, dass dort zur Klosterzeit auch ein Friedhof bestand. Es war mit ziemlicher Sicherheit eine christliche Bestattung, weil sie nach Osten orientiert ist. Was zudem auffiel war, dass die Gliedmaßen sehr eng am Körper lagen. Das ist häufig der Fall, wenn die Bestattungen im Leichentuch erfolgt sind. Das gibt es seit dem Frühmittelalter bis zur Neuzeit, bevor sich jeder eine Erdbestattung mit Sarg leisten konnte.

Versuchen Sie, die Umstände der Bestattung weiter zu rekonstruieren?

Zu den konkreten Umständen der Bestattung lässt sich nichts mehr herausfinden. Uns interessiert aber auch mehr der kulturhistorische und geschichtliche Kontext, zum Beispiel die Einbindung in die Siedlungsstruktur. Da ist eine Sache spannend, und zwar, dass die Grablegung sehr viel näher an der Oberfläche erfolgte, und zwar, weil das Gelände damals auch insgesamt tiefer lag. Die grundsätzliche Frage ist, was sich über die Siedlungsstruktur herausfinden lässt, was nicht in Schriftquellen überliefert ist. Im aktuellen Fall dürfte die Nähe zur Klosterkirche bedeuten, dass dort ein Mönch begraben wurde. Laien hat man dort nicht bestattet, aber es gab auch Ausnahmen. In Ulm beispielsweise gab es nahe des damaligen Franziskanerklosters sehr, sehr viele Bestattungen. Diese Menschen hatten sich quasi eingekauft, um möglichst nah an der Kirche beerdigt zu sein, wozu es auch zahlreiche Schriftquellen gibt.

Wenn die Untersuchungen abgeschlossen sind, was geschieht mit solch einem Skelett? Wird es aufbewahrt oder nachträglich bestattet?

Sollte es unerwartete Funde im Zusammenhang mit einem jüdischen Grab geben, ist eine Wiederbestattung Pflicht. In christlichem Kontext ist dies möglich, aber das liegt im Ermessen des Landesamts für Denkmalpflege. Wenn das mit dem Umfeld abgeklärt ist und kein nachdrücklicher Wunsch in der Richtung besteht, bewahren wir die Knochen in einem zentralen Archiv auf. Es existiert eine Abteilung für Tier- und Menschenknochen.

Unter welchen Umständen könnte eine erneute Bestattung erfolgen?

Es gab beispielsweise in Backnang an der Stiftskirche die Situation, dass man im Zusammenhang mit der Sanierung im ehemaligen Friedhof und in der Stiftskirche selbst sehr viele einzelne Knochen gefunden hat, die keinen Skeletten mehr zuzuordnen waren. Aus diesen losen Funden ohne Bezug zu einem Individuum lässt sich für uns nichts rekonstruieren. Dekan Braun hat sie, eingebettet in eine Zeremonie, wiederbestattet.

Das Gespräch führte Christine Schick.

Auffällig beim Skelettfund war, dass die Gliedmaßen sehr eng am Körper lagen. Das ist häufig der Fall, wenn Bestattungen im Leichentuch erfolgt sind. Foto: Reinhold Feigel

© Reinhold Feigel

Auffällig beim Skelettfund war, dass die Gliedmaßen sehr eng am Körper lagen. Das ist häufig der Fall, wenn Bestattungen im Leichentuch erfolgt sind. Foto: Reinhold Feigel

Die Archäologin Aline Kottmann

Fachfrau Aline Kottmann hat in Tübingen und Cambridge Archäologie des Mittelalters und der Neuzeit studiert. Seit 2007 ist sie beim Landesamt für Denkmalpflege tätig und dort für zwei Bereiche zuständig: Zum einen kümmert sich die 48-jährige Archäologin als Gebietsreferentin um den Rems-Murr-Kreis und die Kreise Göppingen und Heidenheim, als Fachreferentin ist sie zum anderen Ansprechpartnerin fürs Mittelalter sowie für die Planung von Forschungsprojekten.

Vorgehen Zum weiteren Prozedere sagt sie, dass die Untersuchungen – Radiokarbon- und anthropologische Analyse – noch rund zwei bis drei Monate dauern werden. Vor dem Hintergrund des Klosters geht sie aber nicht davon aus, dass dort im Mittelalter eine Frau beerdigt wurde. Im Zweifel ließe sich das mit einer DNA-Untersuchung abklären.

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Erstellt:
27. Oktober 2023, 06:00 Uhr

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