Auftrag: Flüchtige Nazis stellen

Vor 75 Jahren: Erinnerungen an die Nachkriegszeit in Murrhardt (2) Die Ausschreitungen von französischen Soldaten eines Sonderverbands gegen die Einwohner der Walterichstadt waren drastisch. Es kam zu Plünderungen und Vergewaltigungen.

Von Elisabeth Klaper

MURRHARDT. Nachdem die Einwohner der Walterichstadt die Besetzung durch die Amerikaner einigermaßen glimpflich überstanden hatten, waren sie von Ende April bis Anfang Mai 1945 mit dort einquartierten französischen Truppen konfrontiert. Aufschlussreiche Informationen über die schlimmen Vorkommnisse in jenen Tagen enthalten zwei ausführliche Berichte des Bürgermeisters, damals noch Karl Blum, an den Landrat Albert Rienhardt in Backnang. Darin heißt es unter anderem: „Seit Freitag hat die Bevölkerung von Murrhardt große Ausschreitungen, Bedrohungen und Plünderungen erdulden müssen. Sehr viele Kaufläden, besonders Schuh-, Kleiderwaren-, Spirituosen- und Lebensmittelläden wurden ausgeplündert.“ An diesen Plünderungen beteiligten sich hauptsächlich Russen und Polen, laut Heimatgeschichtsforscher Christian Schweizer waren dies in der Walterichstadt untergebrachte Kriegsgefangene, aber auch französische Soldaten.

Blum berichtete weiter: „Den Leuten wurden auf der Straße Uhren und auch Geld unter Bedrohung mit der Waffe abgenommen. Die Läden der Uhrmacher und Optiker wurden verschiedentlich ausgeplündert. Auch in den Wohnungen wurden Geld, Wertsachen und Kleider, Lebensmittel und Geflügel und Hasen (Kaninchen) geraubt. Frauen und Mädchen wurden in gröbster Weise belästigt (und auch vergewaltigt). Die örtliche, unbewaffnete Hilfspolizei wollte mit Unterstützung einiger amerikanischer Soldaten den Ausländern das geraubte Geld wieder abnehmen. Dieser Versuch misslang, weil die in der Nähe befindlichen französischen Soldaten dies durch ein aufgestelltes Maschinengewehr verhinderten. Die Hilfspolizei war dem Treiben der bewaffneten Franzosen, (kriegsgefangenen) Russen und Polen gegenüber machtlos. Wenn sie zum Schutz der Einwohner eingreifen wollte, wurde sie von den Plünderern selbst bedroht.“ (Anmerkungen und Ergänzungen in Klammer)

Heimatgeschichtsexperte Rolf Schweizer ist einer der wichtigsten Zeitzeugen in Bezug auf die Ausschreitungen der französischen Soldaten, die er De-Gaulle-Truppen nennt. Darunter waren viele Nordafrikaner – Algerier, Tunesier, Marokkaner – und Schwarze. „Vergewaltigungen von Mädchen, sogar meines Jahrgangs, wurden mir später bekannt, aber man sprach nicht darüber.“ Darum hätten die Einwohner junge, weibliche Familienmitglieder versteckt, so gut es irgendwie ging, doch die älteren Frauen mussten sich selbst helfen. Stadtarzt Dr. Karl Berner kümmerte sich um die Vergewaltigungsopfer.

Während die französischen Soldaten in der Stadt waren, seien Wertgegenstände aller Art sowie Haustiere „spurlos verschwunden“, das heißt, die Soldaten stahlen sie. „Anfang Mai wurde nachts ein Franzose in der Mittelgasse erschossen. Deshalb nahmen die Besatzer zehn oder zwölf deutsche Männer als Geiseln und bedrohten sie mit dem Tod. Doch hatten sie Glück im Unglück: Zwei französische Kriegsgefangene waren Retter in der Not, die den Täter unter den Soldaten der De-Gaulle-Truppe ausfindig machen konnten. Dieser hatte im Rausch einen tödlichen Schuss auf seine Kameraden abgegeben. So kamen die Geiseln noch in letzter Minute frei.“

Laut Christian Schweizer hatten französische Truppen den südlichen Teil Württembergs bis Stuttgart besetzt. „Deren Aufenthalt in Murrhardt ist ein spezielles Kapitel, weil das Innen- und Finanzministerium des Landes Württemberg hierher ausgelagert war.“ Deren Büros waren in verschiedenen Gebäuden untergebracht, so in der Villa Franck und der Stadthalle, den Gasthöfen Engel und Sonne-Post. Schweizer hat recherchiert, dass die Soldaten, die nach Murrhardt kamen, zu einem Sonderverband gehörten. Dieser bestand aus Einheiten der 2. Freifranzösischen Panzerdivision unter dem Kommando von General Philippe Leclerc, dem Befreier von Paris. In dieser Einheit gab es als besondere Abteilung die „Marinettes“, eine Marinesanitätseinheit. Deren Kommandeur war der damalige Sous-Lieutenant (Unterleutnant) Philippe de Gaulle, Sohn von General Charles de Gaulle, Leiter des Widerstands des Freien Frankreich gegen die deutsche Besatzung. Diese Einheit war wiederum Teil eines tunesisch-französischen Kavallerieregiments, dessen Stab seinen Sitz in Schwäbisch Hall hatte, und die einzelnen Einheiten waren in den Orten zwischen Hall und Murrhardt stationiert.

„Auftrag dieses Verbands war es, flüchtige Nazis aufzuspüren und gefangen zu nehmen sowie wichtige Unterlagen sicherzustellen. Insofern war die Marschroute des Verbands von Mannheim bis nach Berchtesgaden zum Obersalzberg, Domizil des ,Führers‘ Adolf Hitler, vorgezeichnet. Die einzige zehntägige Marschpause auf der Strecke legte der Verband in Murrhardt und Schwäbisch Hall ein. Denn die Franzosen hatten durch geheimdienstliche Aufklärung herausgefunden, dass in der Walterichstadt die ausgelagerten Ministerien waren.“ Laut Schweizer wussten die Franzosen, dass der württembergische Innenminister Jonathan Schmid von 1940 bis 1943 Chef des zivilen Anteils der Militärverwaltung in Paris war, ebenso einige seiner Mitarbeiter aus den württembergischen Ministerien. Zudem lebten kurz nach Kriegsende in Murrhardt einige namhafte Angehörige der Wehrmacht, die in Paris eine Führungsrolle innehatten, wie der Widerstandskämpfer Rudolf Hartmann. Deshalb durchsuchten die Franzosen einige Gebäude, es kam aber auch zu massiven Übergriffen wie Plünderungen und Vergewaltigungen. Denn die Aggressivität der Soldaten aus den nordafrikanischen französischen Kolonien war recht groß.

Auslöser dafür war laut Zeitzeuge Rolf Schweizer wahrscheinlich Alkohol, denn einige Mitglieder der „Marinettes“ waren in der Walterichsapotheke einquartiert und hatten sich betrunken. Dies war wohl auch der Grund dafür, dass ein französischer Soldat einen Kameraden erschoss, was wiederum zu falschen „Vergeltungsaktionen“ gegenüber der Zivilbevölkerung führte, wie Diebstahl und Raub, Misshandlungen und sogar Mord in Fornsbach. „Die Übergriffe gegen die Zivilbevölkerung sind nie geahndet worden. Schwerpunkte waren die Häuser an der Riesbergstraße und Römerstraße, am Mönchsrain und Linderst. Dazu gibt es über 200 Berichte und Anzeigen. Die damals noch in Murrhardt anwesenden ehemaligen französischen Kriegsgefangenen malten an manche Häuser Lothringerkreuze, um den Soldaten zu zeigen, dass diese geschützt sind, was jedoch nicht immer etwas nützte“, verdeutlicht Christian Schweizer.

Auftrag: Flüchtige Nazis stellen

© Jörg Fiedler

„Es wurde ein Franzose erschossen. Deshalb nahmen die Besatzer zehn oder zwölf deutsche Männer als Geiseln...“

Rolf Schweizer, Zeitzeuge

Zum Artikel

Erstellt:
22. August 2020, 06:00 Uhr

Artikel empfehlen

Artikel Aktionen

Lesen Sie jetzt!

Murrhardt und Umgebung

Nachtkrabb lockt SWR-Quiz nach Murrhardt

Die SWR-Rateshow „Stadt-Land-Quiz“ macht erneut halt in Murrhardt. Dieses Mal treten die Murrhardter im spannenden Städteduell gegen Dahn in Rheinland-Pfalz an. Dabei stellt sich die Frage: Wer kennt sich besser mit Mythen und Legenden aus?

Murrhardt und Umgebung

„Es darf nie wieder geschehen“

Heinz-Georg Kowalski aus Murrhardt hat das Ende des Zweiten Weltkriegs als Kind in der Nähe von Torgau erlebt, wo Russen und Amerikaner am 25. April 1945 aufeinandertrafen. Seine drei Brüder verloren im Krieg ihr Leben. Als Zeitzeuge fühlt er sich in der Verantwortung.