Tochter von Vergewaltigungsopfer Gisèle Pelicot
Betäubt, vergewaltigt, entwürdigt
Der Pelicot-Prozess in Avignon erregt weltweit Aufsehen. Caroline Darian, die Tochter des Angeklagten Dominique Pelicot, engagiert sich für betäubte Opfer von sexueller Gewalt. Ein Randphänomen? Keineswegs, sagt sie in einem Buch, das bald auf Deutsch erscheint.
Von Stefan Brändle
Der Schrei der 45-jährigen Frau gellte durch den Raum, bevor sie aufstand und den Gerichtssaal in Avignon unter Tränen verließ: „Du lügst!“ Caroline Darian hielt die Vernehmung ihres Vaters nicht mehr aus. Er bestritt rundum, sich an seiner Tochter vergangen zu haben, so wie er seine Frau Gisèle vergewaltigt hatte. Er habe das Mädchen zwar nackt fotografiert, sagte Dominique Pelicot zu Prozessbeginn im September, aber „nie berührt“.
„Rund um meine nackte Tochter“ steht auf zwei Fotos
Angeklagt ist er, weil er seine Frau jahrelang immer wieder ohne ihr Wissen betäubt und Dutzenden von anderen Männern zur Vergewaltigung überlassen haben soll. Die Polizei fand auf seinem Computer über 20 000 Fotos und Videos. Zwei davon, versehen mit dem Vermerk „Rund um meine nackte Tochter“, zeigen ein schlafendes Mädchen von zehn Jahren in Unterwäsche. Caroline Darian erkannte sich, nicht aber ihre Schlafstellung. Und auch nicht ihre Unterwäsche – die musste ihr jemand angezogen haben. Dabei habe sie einen sehr leichten Schlaf, sie wache bei jedem Geräusch auf, sagte Caroline.
Als der Angeklagte aus seinem Glaskäfig erwiderte, das seien normale Familienfotos, sprang die Tochter von ihrem Stuhl auf. Sie sagte, er habe sich „ohne jeden Zweifel“ auch an ihr vergangen. Das wäre Inzest. Doch die Beweislage ist dünn. Der Gerichtspsychologe hat klargemacht, dass es für die Tochter besonders schwierig sei, eine Situation zu verarbeiten, wenn es keine Gewissheit gebe.
Unbestreitbar sind dagegen die Albträume, die schlaflosen Nächte. Und die Wut: Caroline Darian, verheiratet, ein zehnjähriger Sohn, verhehlt ihre Abscheu gegenüber ihrem Vater nicht. Unruhig saß sie an den langen Prozesstagen zwischen ihren beiden Brüdern; immer wieder schoss sie wütende Blick in Richtung des Mannes, den sie nur ihren „Erzeuger“ nennt. Während ihre Mutter den Ausführungen ihres Ex-Gatten schweigend und stoisch folgte, warf Caroline ihm vor, er lüge „wie gedruckt“, und er manipuliere das Gericht, so wie er seine Familie jahrelang hintergangen habe.
Ihr Buch heißt „Wie ich aufhörte, dich Papa zu nennen“
Schon vor zwei Jahren hatte Caroline Darian in einem Buch beschrieben, was bei dem Prozess heute die halbe Welt verfolgt: Nicht nur, wie Dominique Pelicot (71) seine betäubte Frau nachts per Internet-Chatroom Unbekannten zur sexuellen Misshandlung offerierte. Sondern auch, wie sich ihre Familie nach dem ersten Polizeianruf nur langsam mit dem Unfassbaren, ja Unvorstellbaren abfand. Das Buch mit dem Titel „Wie ich aufhörte, dich Papa zu nennen“ – das im Frühjahr 2025 auf Deutsch erscheinen soll – zeugt vom Schock und Schmerz, dass hinter dem viel geliebten Familienvater ein monströser Sexualverbrecher zum Vorschein kam.
Noch heute fühle sich die Familie „wie in einem Tsunami“, schrieb Darian jüngst auf ihrem Instagram-Kanal, den sie aus dem gleichen Grund unterhält, aus dem sie ihr Buch geschrieben hat: „Ich will allen Frauen und Kindern helfen, die von sexueller Gewalt überwältigt werden. Mit meiner Schilderung will ich Alarm schlagen und aufzeigen, wie verbreitet die Plage der ,chemischen Unterwerfung‘ ist.“ So nennt man in Frankreich den sexuellen Missbrauch nach Verabreichung von Schlafmitteln oder Partydrogen wie GHB. Im Jahr 2022 gingen in Frankreich deswegen 1229 Anzeigen ein; die Dunkelziffer liegt laut Expertinnen um mindestens das Zehnfache darüber.
Caroline Darian wendet sich in ihrem Buch auch direkt an die Opfer: „Wenn Sie regelmäßig Gedächtnislücken haben, muss Ihnen das ein Zeichen sein. Zögern Sie nicht, einen toxikologischen Test zu machen.“ Sie zählt weitere Symptome auf: Schläfrigkeit, Erinnerung nicht an den Sexualverkehr, aber vielleicht an einen seltsamen Geschmack des Kaffees; die Überraschung, andere Kleidung als am Vortag zu tragen oder hohe Geldausgaben getätigt zu haben.
Auch andere Fälle machen gerade Schlagzeilen
Die meisten Frauen dächten, so etwas könne ihnen nie passieren, schätzt die Buchautorin. Doch die Täter kämen nicht als gefährliche Psychopathen daher, sondern agierten wie andere Vergewaltiger zu größten Teilen im eigenen Familien- oder Bekanntenkreis.
Einige Fälle machen heute Schlagzeilen. So erhielt der Direktor des reputierten Thinktanks „Institut Montaigne“ eine bedingte Haftstrafe von einem Jahr, nachdem er einer Untergebenen, zugleich seine Ex-Schwägerin, eine Droge ins Getränk geschüttet hatte. Am Montag begann in Paris eine Strafuntersuchung gegen den französischen Senator Joël Guerriau, der eine andere Abgeordnete der politischen Mitte in sein Büro geladen und Ecstasy in ihr Glas geschüttet haben soll. Sie konnte sich knapp in ein Taxi retten. Mehrere Abgeordnete haben dieser Tage einen Gesetzesvorschlag eingereicht, laut dem die Sozialversicherung den fast tausend Euro teuren toxikologischen Test übernehmen soll.
Vor einem Jahr hat Caroline Darian das Kollektiv „M’endors pas“ (Schläfere mich nicht ein) gegründet. Damit und mit ihrem viel beachteten Buch hat sie wertvolle Vorarbeit für die öffentliche Wahrnehmung des Pelicot-Prozesses geleistet.
Auf ihrem neuen Instagram-Eintrag betont sie allerdings, sie sei keineswegs eine „Wonder Woman“ (Superfrau). „Meine Mutter, meine Brüder und ich bemühen uns nur, vor Gericht und der Kamera Würde zu bewahren“, schrieb sie, um anzufügen, sie werde für ein paar Tage eine Klinik aufsuchen, um sich nach der aktuellen Prozesspause auf die zweite Hälfte der bis Dezember dauernden Gerichtsverhandlungen vorzubereiten. Und „um einem der schlimmsten Sexualtäter der letzten 20 oder 30 Jahre gegenübertreten zu können“. Das heißt, ihrem Vater.