Vannes in Frankreich
Chirurg wegen sexuellen Missbrauchs von fast 300 Kindern vor Gericht
Es dürfte einer der größten Prozesse wegen Kindesmissbrauchs in Frankreich werden: Von Montagnachmittag an muss sich ein französischer Chirurg wegen des Missbrauchs von 299 Patienten vor Gericht verantworten. Seine Opfer waren im Schnitt elf Jahre alt.

© dpa/Thomas Padilla
Vannes: Medienvertreter fotografieren Akten im Gerichtsgebäude, in dem der Prozess gegen einen pensionierten Chirurgen beginnt.
Von red/AFP
Es dürfte einer der größten Prozesse wegen Kindesmissbrauchs in Frankreich werden: Von Montagnachmittag an muss sich ein französischer Chirurg wegen des Missbrauchs von 299 Patienten vor Gericht verantworten. Seine Opfer waren im Schnitt elf Jahre alt. Der 74 Jahre alte frühere Chirurg Joël Le Scouarnec ist nach Angaben der Staatsanwaltschaft weitgehend geständig.
Die Opfer des Arztes hofften in erster Linie auf die „Anerkennung durch die Justiz“, sagte die Anwältin Marie Grimaud beim Eintreffen im Gericht im bretonischen Vannes am Montag. In der Nähe war ein Transparent aufgehängt, das dem französischen Ärzteverband Komplizenschaft vorwarf.
Die Vergehen wurden bekannt, weil die Ermittler bei einer Hausdurchsuchung in einem anderen Verfahren auf Tagebücher des Arztes stießen. Darin beschrieb er minutiös, wie er sich an kleinen Jungen und Mädchen verging - teils unter dem Vorwand von Untersuchungen, teils unter Narkose. Ermittler fanden außerdem rund 300.000 Fotos und Videos mit kinderpornographischen Inhalten. Zunächst gingen die Ermittler von mehr als 300 Opfern aus, einige der Fälle galten jedoch als verjährt.
Der Chirurg führte sorgfältig Buch über seine Schandtaten
Le Scouarnec muss sich wegen 111 Vergewaltigungen und 189 sexueller Übergriffe verantworten, die sich über einen Zeitraum von zweieinhalb Jahrzehnten und auf verschiedene Krankenhäuser des Landes erstreckten. Ihm drohen bis zu 20 Jahre Haft. 256 der 299 mutmaßlichen Opfer waren jünger als 15. Zu den Opfern zählen nach Einschätzung der Anklage aber auch ein ein Jahr altes Baby und ein 70 Jahre alter Patient.
Gut zwei Monate nach der Verurteilung des Serienvergewaltigers Dominique Pelicot und 50 Mitangeklagten dürfte das Verfahren große Aufmerksamkeit bekommen. Dabei gibt es Parallelen: Viele von Scouarnecs Opfern waren laut Anklage während der Taten bewusstlos. Zudem führte der Chirurg wie Pelicot sorgfältig Buch über seine Schandtaten und hortete Fotos und Videos. Der Unterschied: Während es im Pelicot-Prozess ein Opfer und 51 Täter gab, sind es nun ein Täter und knapp 300 Opfer.
Le Scouarnec arbeitete in zahlreichen Krankenhäusern im Westen Frankreichs. Obwohl manche seiner Chefs und Kollegen wussten, dass er bereits früher wegen Kinderpornographie verurteilt worden war, behinderte dies nicht seine Karriere. Dies führte zu einem zweiten Ermittlungsverfahren, in dem es um Behördenversagen geht.
299 mutmaßliche Opfer identifiziert
Viele der Opfer erfuhren erst im Erwachsenenalter, was ihnen widerfahren war. „Ich wusste immer, dass irgendwas nicht stimmte“, sagte die 42 Jahre alte Amélie Lévêque der AFP. Lévêque war von Le Scouarnec im Alter von neun Jahren am Blinddarm operiert und nach Einschätzung der Ermittler missbraucht worden. Später entwickelte sie eine Krankenhausphobie, litt an Essstörungen, war depressiv.
Auf Grundlage der detaillierten Aufzeichnungen des Arztes konnten 299 mutmaßliche Opfer identifiziert werden. Der Prozess findet im bretonischen Ort Vannes in einem eigens zum Gericht umgebauten Universitätsgebäude statt. Er ist auf vier Monate angelegt, etwa 40 der Nebenkläger haben den zeitweisen Ausschluss der Öffentlichkeit beantragt.
Der Angeklagte war bereits 2020 zu 15 Jahren Haft verurteilt worden, weil er in den 90er Jahren vier Mädchen missbraucht hatte, unter ihnen zwei Nichten, eine Patientin und die sechs Jahre alte Tochter seiner Nachbarn. Es war die Vergewaltigungsanzeige des Nachbarskindes, die die Hausdurchsuchung ausgelöst und damit das schockierende Ausmaß des mutmaßlichen Massenmissbrauchs ans Licht brachte.