Das jüdische Gemeindeleben ist vielfältig

Yuval Lapide mit einer Thora, der Heiligen Schrift der Juden. Er kam 1974 als Jugendlicher mit seinen Eltern nach Deutschland, da sein Vater dort einen Auftrag zur Forschungs- und Versöhnungsarbeit übernahm. Ihnen gelang 1939 die Flucht nach Palästina. Foto: privat

Yuval Lapide mit einer Thora, der Heiligen Schrift der Juden. Er kam 1974 als Jugendlicher mit seinen Eltern nach Deutschland, da sein Vater dort einen Auftrag zur Forschungs- und Versöhnungsarbeit übernahm. Ihnen gelang 1939 die Flucht nach Palästina. Foto: privat

Von Elisabeth Klaper

Murrhardt. „Es ist ein reines Wunder, dass es in Deutschland nach dem Holocaust wieder jüdisches Leben gibt“, betont Yuval Lapide im Online-Vortrag „Wie leben Juden nach dem Holocaust?“ über das zeitgenössische Judentum in Deutschland. Dieses ist überraschend breit gefächert und umfasst etliche unterschiedliche Formen und Strömungen, erfahren über 25 Zuhörer aus der Region und ganz Deutschland vom jüdischen Religionswissenschaftler. Wie seine Eltern Ruth und Pinchas Lapide engagiert er sich stark für den jüdisch-christlichen Dialog.

Dass die evangelische Kirchengemeinde Murrhardt diesen Vortrag anbieten und organisieren konnte, ist deren am Judentum interessierten Mitglied Doris Bäßler zu verdanken, die mit Yuval Lapide und seiner Frau Debora befreundet ist. Sie sandte ihm Pfarrer Hans Joachim Steins Osterpredigt zu, in der er die biblische Geschichte vom Auszug aus Ägypten als jüdische Ostergeschichte auslegte. Darüber kamen Lapide und Stein ins Gespräch, und der Pfarrer wählte das Vortragsthema aus. „Mich interessiert das Thema Judentum seit einem Studienjahr in den USA, weil ich dort lebendiges Judentum erlebt habe. Für mich bereichert das jüdische Denken und der jüdische Glauben auch meinen christlichen Glauben“, betont Stein. Insofern erwarte er, dass Lapides Vortrag das gegenwärtige Judentum in Deutschland in all seiner Vielfalt zeige.

Yuval Lapide, 1961 in Israel geboren, berichtet, dass er zugleich Israeli und Deutscher und in beiden Kulturen aufgewachsen sei. Seine Eltern flohen 1939 nach Palästina, kehrten aber 1974 nach Deutschland zurück, als die evangelische Kirche Hessen-Nassau seinen Vater Pinchas zur Forschungs- und Versöhnungsarbeit nach Frankfurt berief. Damals hätte die Familie nie gedacht zu bleiben und Freunde zu finden. „Jüdisches Leben in Deutschland ist diffizil, komplex und entwicklungsbedürftig.“ Es wieder neu aufzubauen, sei den Holocaustüberlebenden zu verdanken, die sich entschieden, in ihrer deutschen Heimat zu bleiben. „Dies wäre nicht gelungen ohne das von Gott inspirierte Engagement von Heinz Galinski, erster Vorsitzender des 1950 gegründeten Zentralrats der Juden, und Showmaster Hans Rosenthal“, unterstreicht Yuval Lapide.

Vor dem Holocaust lebten etwa 550000 Juden in Deutschland, heute insgesamt rund 200000. Davon sind 130000 offiziell registriert und leben in rund 90 Gemeinden mit eigenen Rabbinern, Synagogen, diversen Einrichtungen und sozialen Aktivitäten. Sie sind dem Zentralrat untergeordnet, der mit Kompromissen an den alten Traditionen und Riten festhalte und die Belange der jüdischen Gemeinden vertritt. Wie die Kirchen sind sie Körperschaften öffentlichen Rechts und berechtigt, die der Kirchensteuer entsprechende israelitische Kultussteuer zu erheben. Hinzu kommen etwa 80000 Personen jüdischen Glaubens, die nicht Gemeinden zugeordnet sind.

Die drei größten jüdischen Gemeinden gibt es in Berlin, Frankfurt und München

„Jeder Jude kann sich eine Gemeinde aussuchen“, und eine jüdische Mutter ist der Nachweis für die jüdische Identität, erläutert der Referent. Die drei größten jüdischen Gemeinden sind in Berlin, Frankfurt und München, hinzu kommen einige mit moderner Ausrichtung. Yuval Lapide bietet an, mit ihm eine Exkursion zu unternehmen, um Synagogen, historische jüdische Friedhöfe und große jüdische Museen in Frankfurt und Berlin zu besichtigen.

Die meisten jüdischen Gemeinden bilden nach dem Prinzip der Gemeinschaft der Juden, die aus Ägypten auszog, einen „Zwangszusammenschluss“ und ein Einheitskonglomerat mit einer bunten Mischung aus verschiedenen religiös-kulturellen Strömungen. Deren Bandbreite reicht von ultraorthodox, sprich äußerst traditionell-konservativ, bis zu liberal. Für sie gibt es den verbindlich gültigen deutsch-jüdischen Einheitsritus aus dem 19. Jahrhundert mit Gebetbuch.

Seit Kurzem gibt es laut Lapide aber auch neue, progressive und alternative Gemeinden, die sich selbst finanzieren und eigene Gebetbücher haben, beispielsweise in Berlin. Dort herrsche völlige Gleichberechtigung von Mann und Frau, es gibt eigene Rituale und Gebetbücher, Rabbinerinnen, Schwule und Lesben, was in orthodoxen Gemeinden verboten sei. Andererseits existieren ultraorthodoxe Gemeinden der spirituell-mystischen Chabad-Bewegung, die sich von den Einheitsgemeinden distanzieren und unter strenger Beachtung traditioneller Gesetze und Riten leben. Zugleich legen sie großen Wert auf Öffentlichkeitsarbeit, Bildung und Vermittlung von Wissen über das Judentum.

„Das Judentum in Deutschland muss vielfältig bleiben und soll alle Richtungen umfassen“, verdeutlicht der Referent. Ein Dauerthema und Problem sei die Integration osteuropäischer, meist russischer Juden in die Gemeindestrukturen, die nach dem Fall des Eisernen Vorhangs aus den Nachfolgestaaten der ehemaligen Sowjetunion nach Deutschland kamen. „Diese Menschen haben ihre eigene Identität noch nicht gefunden und sich sprachlich, kulturell und religiös noch nicht eingelebt“, denn sie seien zum größten Teil atheistisch geprägt und hätten keine Beziehung zur Religion.

Sorge um zunehmenden Antisemitismus und Angriffe auf die Demokratie

„80 Jahre nach den historisch beispiellosen Verbrechen des NS-Regimes gibt es in Deutschland noch immer sehr viele Unkenntnisse, Miss- und Unverständnisse über das jüdische Leben.“ Auch sei die Katastrophe des Holocaust die Ursache dafür, dass die Beziehungen zwischen Juden und Deutschen noch nicht geheilt sind, erläutert Yuval Lapide mit Blick auf den aktuell leider wieder zunehmenden Antisemitismus. Die Angriffe auf Juden und Anschläge auf jüdische Einrichtungen bezeichnet er als „Angriffe auf die deutsche Demokratie“. Und „wenn es keine Juden mehr in Deutschland gibt, gibt es bald auch keine Christen mehr“, stellt der Religionswissenschaftler klar. Bereits während des Vortrags beantwortet Yuval Lapide Fragen der Zuhörer, von denen einige mit ihm befreundet sind.

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Erstellt:
12. August 2021, 06:00 Uhr

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