Vierschanzentournee der Skispringer
Das Plus der Routiniers – gewinnt ein Deutscher die Tournee?
Das deutsche Skisprung-Team reist mit einer sehr erfahrenen Mannschaft zum Start der Vierschanzentournee nach Oberstdorf. Ist das ein Vor- oder ein Nachteil?
Von Dirk Preiß
Wer im Spitzensport nur den Fokus auf das Hier und Jetzt legt, läuft Gefahr, in naher Zukunft überholt zu werden. Glaubt man Werner Schuster, dann muss sich das österreichische Skisprung-Team diesbezüglich keine Sorgen machen. „Sie haben“, sagt der frühere deutsche Bundestrainer, der Österreicher ist, „die Mannschaft der Zukunft.“ Was für die Equipe des Deutschen Skiverbands (DSV) nur bedingt gilt.
Wenn an diesem Samstag (16.30 Uhr) mit der Qualifikation in Oberstdorf die 73. Vierschanzentournee beginnt, muss die deutsche Mannschaft zwar nicht fürchten, als Reptilienshow der Flugsaurier angekündigt zu werden. An Erfahrung, um es positiv auszudrücken, mangelt es im Team des Bundestrainers Stefan Horngacher aber ganz und gar nicht.
Pius Paschke, der überraschend an der Spitze des Weltcups steht, ist bereits 34 Jahre alt. Andreas Wellinger ist 29, Karl Geiger 31, Stephan Leyhe 32 – und wenn beim zweiten Event in Garmisch-Partenkirchen auch Ex-Weltmeister Markus Eisenbichler mitspringt, kommt ein 33-Jähriger noch hinzu. Komplettiert wird das Stammteam von Philipp Raimund (24) und Adrian Tittel (20).
Das alles sind zunächst einmal nur Zahlen – und dass jung und alt nicht mit gut und schlecht gleichzusetzen sind, hat gerade der Skisprungsport wieder und wieder bewiesen. Da sind in den vergangenen Jahrzehnten zwar immer wieder Wunderkinder im Teenageralter zu ganz großen Triumphen geflogen, aber manch eine Karriere hat auch erst im höheren Alter so richtig Fahrt aufgenommen. Bestes aktuelles Beispiel: eben Pius Paschke.
Fast 25 Jahre alt war der Münchner bereits, als er im Februar 2015 seine ersten Weltcup-Punkte erspringen konnte. Er blieb auch danach ein Pendler zwischen dem zweitklassigen Continental-Cup und der ersten Liga des Skispringens, dem Weltcup. Erst in den vergangenen vier, fünf Jahren etablierte er sich bei den Besten, seinen ersten Weltcup gewann er vor rund einem Jahr. Als 33-Jähriger.
In anderen Sportarten sind solche Karriereverläufe kaum denkbar. Warum also klappt das ausgerechnet im Skispringen? An einer Erklärung versucht sich Martin Schmitt.
Der Schwarzwälder holte als 19-Jähriger seine erste WM-Medaille, seine letzte mit 33 Jahren. Als 24-Jähriger wurde er Olympiasieger, kennt also alle Phasen einer Skispringerlaufbahn bestens. Heute ist er wie Schuster Nachwuchscoach und TV-Experte bei Eurosport. Er sagt: „Das Skispringen hat sich verändert. Die Materialabhängigkeit ist heute groß, was einen großen Erfahrungsschatz erfordert.“ Den haben ältere Sportler, deshalb könnten „einige von ihnen was bewegen“.
Schmitt beschreibt das Skispringen wie viele andere auch als sehr „sensible Sportart“. Sprich: Kleinere Veränderungen können große Auswirkungen haben. Auch deshalb sieht er in der Erfahrung eines Sportlers einen so großen Trumpf. Mal sind es eigene Bewegungsmuster, die nicht mehr passen. Mal ist es eine Regeländerung, die Veränderungen notwendig macht. Extrem wichtig sind auch die Entwicklungen beim Material. Wer da auf die Erfahrungen von unzähligen Trainings- und Wettkampfsprüngen zurückgreifen kann, sei laut Martin Schmitt klar im Vorteil. „Früher“, sagt Martin Schmitt, „war das Skispringen nicht so eine ganz große Tüftelei.“
Noriaki Kasai und Simon Ammann springen immer noch
Heute dagegen sind jüngere Athleten oder solche aus finanzschwachen Verbänden oft erst einmal abgehängt vom Topmaterial. Mit dem „Standard-Set-up“, erklärt Werner Schuster, könnten die Talente zwar „relativ weit kommen“. Aber eben nicht an die Spitze. „Für die Jungen ist es schwer, den Sprung in den Weltcup zu schaffen“, bestätigt auch Martin Schmitt. Und haben sie sich dann doch irgendwann an den Punkt herangearbeitet, an dem sie wie die Arrivierten beim Material „in das obere Regal“ (Schuster) der vielen modernen Möglichkeiten greifen dürfen, müssen sie erst einmal herausfinden, was zu ihnen passt – und was eher hinderlich ist. Auch das erfordert wieder Zeit und Akribie. Denn, so sagt es Werner Schuster: „Da kann man sich auch mal verlaufen.“
Ältere Springer wie die deutschen Routiniers, die Österreicher Stefan Kraft (31) oder Manuel Fettner (39) haben ihren Weg da längst gefunden. Und sind auch im Herbst der Laufbahn erfolgreich. Wenn zwei weitere Faktoren hinzukommen.
Zum einen sollte der jeweilige Routinier einigermaßen verletzungsfrei durch die Karriere gekommen sein. Zudem ist eine Offenheit für neue Themen entscheidend. Beides trifft auf Pius Paschke zu. „Das“, sagt Schmitt, „ist ein Pfund, auf das er nun zurückgreifen kann.“ Was er bislang in dieser Saison auch tut.
Fünf Weltcup-Springen hat Paschke in diesem Winter schon gewonnen, führt den Weltcup an und reist als einer der Topfavoriten zur Tournee. Andreas Wellinger (6.) und Karl Geiger (9.) kommen mit Außenseiterchancen nach Oberstdorf – und eben auch mit dem Wissen, was so eine Tournee auch abseits der Sprünge so mit sich bringt. „Die Routiniers“, sagt Bundestrainer Stefan Horngacher, „wissen sehr genau, wie sie bei dieser Großveranstaltung agieren wollen.“
Mit Blick auf die anstehende Vierschanzentournee ist die Altersstruktur im deutschen Team also vielleicht sogar ein Vorteil, der erste Sieg eines DSV-Adlers seit Sven Hannawald 2002 scheint mal wieder möglich. „Für die Zukunft ist das aber ein Problem“, sagt Werner Schuster und mahnt: „Skisprung-Deutschland muss die Ärmel hochkrempeln.“
Denn ewig werden auch die Erfahrenen nicht mehr springen. Wobei: Gegenüber zwei wahren Flugsauriern kommen sie ja noch daher wie Jungspunde. Simon Ammann (Schweiz) springt mit seinen 43 Jahren immer noch im Weltcup mit. Noriaki Kasai (52) hat es diesmal zwar nicht ins japanische Weltcup-Team geschafft, will aber 2026 bei den Olympischen Spielen von Mailand und Cortina dabei sein.
Die Vierschanzentournee
Oberstdorf28. Dezember, 16.30 Uhr: Qualifikation; 29. Dezember, 16.30 Uhr: Erstes Tourneespringen (jeweils ZDF und Eurosport)
Garmisch-Partenkirchen31. Dezember, 13.30 Uhr: Qualifikation; 1. Januar, 14 Uhr: Zweites Tourneespringen (jeweils ARD und Eurosport)
Innsbruck 3. Januar, 13.30 Uhr: Qualifikation; 4. Januar, 13.30 Uhr: Drittes Tourneespringen (jeweils ARD und Eurosport)
Bischofshofen 5. Januar, 16.30 Uhr: Qualifikation; 6. Januar, 16.30 Uhr: Viertes Tourneespringen (jeweils ZDF und Eurosport)