Premiere „Drei Mal Leben“ im Schauspielhaus

Der Bürger als Hampelmann

Im Stuttgarter Schauspielhaus verschenkt der Regisseur Andreas Kriegenburg die Tragikomödie „Drei Mal Leben“ von Yasmina Reza an den Boulevard. Warum die Inszenierung eine vertane Chance ist.

Ein Abend, der entgleist: Marco Massafra als Hubert Finidori und Therese Dörr als Sonja

© T+T Fotografie / Toni Suter

Ein Abend, der entgleist: Marco Massafra als Hubert Finidori und Therese Dörr als Sonja

Von Roland Müller

Henri, Wissenschaftler am Institut für Astrophysik in Paris, und seine Frau Sonja, Juristin in der Finanzbranche, haben Gäste zum Abendessen eingeladen: das Ehepaar Hubert und Ines Finidori. Nicht ohne Kalkül, denn Hubert ist der Henris Vorgesetzter und soll dessen Karriere beschleunigen. Der Plan läuft schief: Die Finidoris klingeln einen Tag früher als erwartet. Leerer Kühlschrank, Schlabbergarderobe, dazu der Ehestreit, wie der quengelnde Sohn zum Einschlafen bewegt werden soll. Restlos erschöpft stellen sich Henri und Sonja den Finidoris. Was für eine Katastrophe!

Die weltweit meist gespielte Autorin

Mehr geschieht nicht in Yasmina Rezas „Drei Mal Leben“, außer dass der Grundplot in drei Variationen durchgespielt wird. Wie in einem Labor unterzieht die Autorin die Paare einer Testreihe, mit leicht veränderten Nuancen, um neue Facetten ihres Charakters, neue Konstellationen und Bündnisse hervortreten zu lassen. Das Personal kennt man dabei bereits aus anderen, zwischen Tragik und Komik aufgespannten Reza-Dramen: Sie gehören der gleichen sozialen Klasse an, der gehobenen Bourgeoisie, der man auch in ihren Romanen begegnet. Auf der Bühne indes feiert die Autorin ihren Durchbruch 1994 mit „Kunst“, ihren Ruf festigt sie 2006 mit „Gott des Gemetzels“ – und zwischen den Erfolgsstücken rund um bürgerliche Konventionen hält sie mit „Drei Mal Leben“ aus dem Jahr 2000 Bildungsbürgern und Akademikern ebenfalls den Spiegel vor. Entlarvung durch Verzerrung: Heute ist die 1959 in Paris geborene Reza die weltweit meistgespielte Autorin.

Im Stuttgarter Schauspielhaus akzentuiert Andreas Kriegenburg mit einem hübschen Regie-Einfall die soziale und dramaturgische Ausgangssituation des Salonstücks. Eine im Original nicht vorgesehene Heerschar von standesgemäß schwarz gekleideten Bediensteten weist nicht nur auf das großbürgerliche Milieu hin, dem der Laborversuch gilt, sondern auch auf den Versuch selbst. Zwischen den Akten strömen die Livrierten wie stumme Geister herbei und ändern das Arrangement des abstrakten, mit wenigen stylishen Möbeln bestückten Salons der Bühnenbildnerin Ariane Scherpf – und schieben nach getaner Arbeit Henri, Sonja, Hubert und Ines wie Schachfiguren aufs Feld. Die Versuchsanordnung steht, das Spiel kann von vorne beginnen. Dass es bei allen Variationen nur die Richtung nach unten kennt, wo der dünne Firnis bürgerlicher Wohlanständigkeit platzt, liegt dabei nicht nur an der abschüssigen Spielfläche. Es liegt auch an den Gemeinheiten, die sich die Vier an den Kopf werfen: Je höher der Alkoholspiegel, desto peinlicher die Entgleisung.

So weit, so gut. Aber mit den Problemen im Salon beginnen die nicht minderen der Regie. Kriegenburg fährt in seiner schnellen, neunzigminütigen Inszenierung einen strammen Boulevardkurs. Das Spielerquartett folgt ihm, dreht höllisch auf, zieht Grimassen, stolpert angeheitert und besoffen durch das Wohnzimmer und schmeißt sich mit Verve und ohne Angst vorm Klamauk in die entfesselte Klamotte. Ein Reza-Missverständnis? Als Zuschauer nimmt man die Salon-Turbulenzen überwiegend mit gebremster Heiterkeit wahr. Noch vorm Erscheinen der Finidoris liegen die Nerven der Gastgeber blank. Henri und Sonja streiten sich über Erziehungsfragen, über Apfel oder Keks, mit denen der sechsjährige Arnaud beruhigt werden soll. Henri ist der Sanftere, Nachgiebigere von beiden, eine Biegsamkeit, die bei Gábor Biedermann mental und körperlich spürbar wird. Die Rettung vor Überforderung sieht er in Übersprungshandlungen, weshalb er gerne über die Bühne hampelt. Dagegen Sonja: Die strenge Mutter verweigert dem Kleinen jegliches Betthupferl und kommentiert ihren zerrütteten Gefühlszustand schrill wie eine Comicfigur, mit gestischen, lautmalerischen Überzeichnungen. Therese Dörr ist in ihrem Element und bedient die Eskalationsstrategie des Dreiakters: kleiner Anlass, große Wirkung; Krieg auf dem Schlachtfeld der Ehe. Der kleine Tyrann übt sich früh: Arnauds Quengelei steigert sich ins Unerträgliche.

Die Finidoris üben sich ebenfalls in Eskalationen, ausgelöst nicht durch den Nachwuchs, sondern die Laufmasche in Ines’ Strümpfen. Sie trägt sie unter einem hochgeschlitzten Kleid, das ihre erotischen Ambitionen unterstützt: Celina Rongen malt auftrumpfend am Bild einer in Hochgeschwindigkeit redenden Schnapsdrossel, die Hubert so betrügt wie umgekehrt Hubert sie. Klare Sache, dass der von Marco Massafra verkörperte Schönling sich sofort an Sonja ranschmeißt, die sich die Avancen von Akt zu Akt zwecks karrieristischer Klimapflege mehr und mehr gefallen lässt. Vergebens. Hubert eröffnet dem Untergebenen, dass er die Karriere vergessen kann- und demontiert das Selbstvertrauen des Mitarbeiters, spielt seine Dominanz erbarmungslos aus.

Ein vertane Chance

Massafra trifft noch am ehesten den Ton, den man bei der Lektüre von „Drei Mal Leben“ zu hören glaubt. Sonst aber – jetzt muss es raus – ist Kriegenburgs Inszenierung tatsächlich ein Missverständnis. Reza schreibt zu klug, zu psychologisch differenziert, zu sprachlich brillant, zu scharf analytisch, als dass man ihre Tragikomödie an den Boulevard verschenken könnte – und damit die Pointen, die unterm diskreten Charme der Bourgeoisie haufenweise lauern. Was man in Stuttgart sieht: eine grell vertane Chance!

Drei Mal Leben: Vorstellungen am 12., 16., 31. März sowie 18., 19., 22. und 27. Mai.

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Erstellt:
9. März 2025, 16:10 Uhr
Aktualisiert:
9. März 2025, 16:51 Uhr

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