Gebeutelte Ukraine

Der Krieg, der deutlich länger als 1000 Tage dauert

Die Quellenlage ist erdrückend: Der russische Angriff auf die Ukraine begann Ende Februar 2014 und nicht erst am 24. Februar 2022. Eine Rekonstruktion dessen, was vor mehr als zehn Jahren mit der russischen Besetzung der ukrainischen Krim geschah.

18. November 2024: Rettungskräfte in Odessa versuchen, ein Feuer nach einem russischen Raketenangriff zu löschen

© dpa/Uncredited

18. November 2024: Rettungskräfte in Odessa versuchen, ein Feuer nach einem russischen Raketenangriff zu löschen

Von Franz Feyder

Dass der Krieg in der Ukraine an diesem Mittwoch, dem 20. November, seit 1000 Tagen andauert, ist vor allem eine von deutschen Medien und Politikern gepflegte Erzählweise. In der Ukraine wird die am 24. Februar 2022 begonnene russische Offensive als „full scale invasion“, als „Invasion auf dem ganzen Staatsgebiet“, bezeichnet. Eine zutreffende Beschreibung: Denn die russische Invasion der Ukraine hat bereits Ende Februar 2014 begonnen, wie eine nahezu minutiöse Rekonstruktion der Ereignisse vor zehn Jahren zeigt. Gleichgültig, ob der 24. Februar oder der 27. Februar 2014 mit der Besetzung des Parlamentes der Krim als Beginn des russischen Angriffs auf die Ukraine genommen wird: An diesem Mittwoch dauert der Krieg in der Ukraine 3919 oder 3922 Tage an – und nicht erst 1000.

Was passierte zwischen dem 20. und 24. Februar 2014? Die russischstämmige Historikerin Anna Arutunyan beschreibt in ihrem Aufsatz „Hybride Krieger. Söldner und Moskaus Kampf“ für die in Brüssel beheimatete, renommierte Nichtregierungsorganisation „Crisis Group“ sowie die Fachzeitschrift „Foreign Affairs“, dass der russische Präsident Wladimir Putin die Entscheidung, die Krim mit russischen Soldaten zu besetzen, am 22. Februar 2014 zusammen mit seinem Stabschef Sergei Iwanow sowie Verteidigungsminister Sergei Schoigu fällte. Putin selbst sagte, der Befehl, russische Truppen auf die ukrainische Krim zu entsenden, sei am Morgen des 23. Februar 2014 getroffen worden, der Einsatzbefehl daraufhin an die dafür vorgesehenen Truppenteile der 76. Gardeluftlandedivision sowie der 18. Mechanisierten Garde-Schützendivision gegeben worden. Beteiligt wurde auch die exterritorial im Hafen von Sewastopol auf der Krim stationierte russische 810. Garde-Marine-Infanterie-Brigade.

Gibt es für diese Version eine weitere Bestätigung?

Der britische Politologe Daniel Treisman bestätigt in seinem Buch „Putin und die Krim: Anatomie einer Entscheidung“ die Recherchen Arutunyans. Er bezweifelt jedoch, dass der Einsatzbefehl erst am 23. Februar 2014 gegeben wurde. Nach seinen Recherchen seien russische Spezialeinheiten in der russischen Schwarzmeerhafenstadt Noworssijsk bereits am 18. Februar 2018 einsatzbereit gemacht worden. Die für die Operation vorgesehenen Truppen hätten am 20. Februar 2014 den Befehl erhalten, „in einer ‚friedenssichernden Operation‘ ukrainische Militärstützpunkte auf der Krim zu blockieren“. Nach Treisman bekamen die an der Besetzung der Krim beteiligten russischen Soldaten eine Einsatzmedaille verliehen. Auf diesen Orden sind für den Einsatz die Daten 20. Februar bis 18. März 2014 eingraviert. Durch einen Hackerangriff wurde bekannt, dass diese Medaillen bereits im Herbst 2013 in Russland geprägt wurden. Für die Ukraine beginnt daher die Besetzung der Krim mit dem auf der Einsatzmedaille genannten Datum 20. Februar 2014.

Was geschah in der Nacht vom 23. auf den 24. Februar 2014 auf der Krim?

Der russische Historiker Ruslan Pukhov beschreibt in seinem im September 2015 verfassten Aufsatz „Waffenbrüder – Aspekte der Krise in der Ukraine“ für das Moskauer Zentrum für Analysen von Strategien und Technologien, dass sich Vorauseinheiten der 76. Garde-Luftlandedivision auf dem Flughafen der russischen Schwarzmeerstadt Anapa in der Nacht zum 24. Februar 2024 bereitmachten, um auf die Krim transportiert zu werden. Sie sollen um 3.38 Uhr auf dem Flughafen Simferopol angelandet worden sein. Um 4.07 Uhr am 24. Februar 2014 verließ zudem das 2. Bataillon der 810. Garde-Marine-Infanterie-Brigade unter Führung des damaligen Brigadekommandeurs und späteren Generalleutnants Oley Yuryevich Tsokov seine Kaserne im Hafen von Sewastopol. Die Soldaten blockierten auftragsgemäß die Kaserne der 42. ukrainischen Brigade des Innenministeriums in der Stadt.

Tsokov starb am 11. Juli 2023 auf dem Gefechtsstand der russischen 58. Armee nahe der südukrainischen Stadt Berdiansk. Weil die russischen Soldaten ohne ihre Hoheitsabzeichen an den Uniformen operierten, wurden sie im Westen als „kleine grüne Männchen“ bezeichnet.

Was folgte in der Zeit vom 24. Februar bis zum 1. März 2014?

Am 26. Februar 2014 kam es beim Parlamentsgebäude in Simferopol zu Zusammenstößen zwischen Anhängern der neuen ukrainischen Führung und prorussischen Demonstranten. Das Parlament der Krim wurde endgültig am 27. Februar 2014 russisch besetzt, die Abgeordneten von Bewaffneten gezwungen, einem Unabhängigkeitsreferendum der Krim für den 25. Mai 2014 zuzustimmen. In den folgenden Tagen wurden Teile der motorisierten russischen Garde-Schützendivision, weitere Spezialeinheiten des Generalstabs der Russischen Föderation sowie polizeiliche Sondereinheiten des russischen Innenministeriums auf der Krim eingesetzt.

Wie berichteten westliche Nachrichtenagenturen über die Besetzung der Krim im Februar 2014?

Die Nachrichtendienste Reuters und dpa berichteten erstmalig am 27. Februar 2014 um 9.03 Uhr und 9.11 Uhr über die russische Besetzung. Der damalige Nato-Generalsekretär Anders Fogh Rasmussen zeigte sich am selben Tag besorgt über die Besetzung des Parlamentes der Krim „durch von Russland unterstützte, bewaffnete Gruppen“ und verurteilte die „in den vergangenen Tagen erfolgten Provokationen offenbar russischer Truppen auf der Krim“.

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Erstellt:
19. November 2024, 16:32 Uhr
Aktualisiert:
19. November 2024, 16:59 Uhr

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