Was geschah am . . . 22. April 1915?
Deutsche Truppen setzen im Ersten Weltkrieg erstmals Giftgas ein
Es war der erste industrialisierte Krieg der Menschheit. Mit allen Mitteln versuchten die beteiligten Mächte des Ersten Weltkriegs, sich gegenseitig zu töten. Eine der neuen Waffen war Giftgas. Vor 110 Jahren, am 22. April 1915, wurde es in der Zweiten Flandernschlacht erstmals von deutschen Truppen eingesetzt.

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Amerikanische Soldaten sind im Frühjahr bei einem Sturmangriff von einer Giftgas-Wolke eingehüllt. Einer der Soldaten hat sich seine Gasmaske abgerissen und ringt nach Luft.
Von Markus Brauer/dpa
Der Sensenmann kommt an diesem schönen Spätnachmittag des 22. Aprils 1915 mit einer sanften Brise. Überrascht und neugierig beobachten britische, französische und belgische Soldaten auf dem Schlachtfeld bei Ypern ein merkwürdiges Schauspiel: Aus den deutschen Schützengräben steigen auf etwa sechs Kilometer Breite weißliche, sich bald braungrün verfärbende Wolken auf und bewegen sich, vom Wind langsam getrieben, auf die eigenen Stellungen zu.
„Wir sind vergiftet!“
Als die ominöse Wolke in die Schützengräben strömt, lässt sie die Augen der Soldaten augenblicklich tränen. Sie reizt Nasen, Hälse, Lungen, verursacht heftigen Husten. Wenig später rast der entsetzte Ruf „Wir sind vergiftet!“ durch die Reihen der Entente-Truppen zwischen Langemarck und Bixschote.
Dem französischen General Jean Jules Henri Mordacq, der von verzweifelten Meldungen aufgeschreckt zur Front galoppiert, bietet sich ein grauenhafter Anblick: überall Flüchtende, verstört, mit ausgezogenen oder weit geöffneten Uniform-Röcken. Orientierungslos rennen sie um ihr Leben, ringen krampfhaft nach Luft. Einige verlangen schreiend nach Wasser, andere spucken Blut.
Auch wer den mit Chlorgas gefüllten Schützengräben zunächst entkommen kann, ist nicht in Sicherheit: Viele der Soldaten aus Frankreich und Großbritannien schaffen es noch krampfend und röchelnd in weiter entfernte Stellungen, schreien nach Wasser, doch dann werden sie schwarz im Gesicht, husten Blut.
6000 Tote, 15.000 Verletzte
So schildern die Überlebenden das Geschehen vom 22. April 1915. Die Angaben über die Zahl der Todesopfer schwanken erheblich. Bis zu 6000 sollen es gewesen sein, 15.000 erleiden Vergiftungen.
So beginnt der Einstieg in das Zeitalter der Massenvernichtungswaffen. Schnell wandelt sich der Erste Weltkrieg in einen von allen beteiligten Seiten geführten Gaskrieg mit allen Facetten, die ein Waffengang m industriellen Zeitalter der Massenproduktion zu bieten hat.
Gaseinsatz von Ypern ist militärisch nutzlos
Von der durchschlagenden Wirkung, die das Gift dort entfalten würden, sind Angreifer und Angegriffene gleichermaßen überrascht. Die Oberste Heeresleitung der Deutschen unter General Erich von Falkenhayn verbindet mit dem Einsatz die Hoffnung, die im Stellungskrieg erstarrte Westfront wieder aufzureißen und vielleicht doch noch in Flandern den Durchbruch zu den Kanalhäfen zu erzwingen. Dieser soll Frankreich von Großbritannien abtrennen und die Versorgung der auf dem Festland kämpfenden Entente-Truppen erschweren.
Doch als dann am 22. April insgesamt 5730 Gasflaschen zischend mehr als 100 Tonnen Chlorgas ausgespien haben, stehen wegen mangelnder Vorbereitung nicht genügend deutsche Truppen bereit, um in die sich auftuende Lücke zu stoßen und vielleicht doch den entscheidenden Schlag des Krieges zuführen. Der Gaseinsatz von Ypern erweist sich als militärisch nutzlos.
Überraschungseffekt der neuen Waffe verpufft
Für die deutsche Militärführung ist es nach zwei abgebrochenen Versuchen bereits der dritte Anlauf mit Giftgas. Die Deutschen halten nicht genügend Reserven an Soldaten bereit und können daher die Lücke, die Tod und panische Flucht in die französischen Linien reißen, nicht nutzen.
Der Gasangriff ist der Versuch, den seit Monaten andauernden Stellungskrieg zu beenden und die Front zu durchbrechen. Der Überraschungseffekt der neuen Waffe lässt sich nicht wiederholen. Nur Tage später nutzen die Alliierten erste primitive Schutzvorrichtungen.
124.200 Tonnen chemischer Substanzen werden 1915-1918 eingesetzt
Innerhalb weniger Monate setzen beide Seiten auf Chemiewaffen, allerdings ohne großen strategischen Nutzen. Auf das leicht erhältliche und weithin industriell genutzte Chlor folgen Phosgen (lässt das Wasser in den Lungen steigen, führt zu inneren Blutungen) und Senfgas (Blasenbildung, zerstört Gewebe, Blindheit). Gas wird nun eine weitere Waffe im tödlichen Arsenal des mechanisierten und industrialisierten Mordens.
124.200 Tonnen chemischer Substanzen kommen nach Schätzungen der Organisation für das Verbot von Chemiewaffen (OPCW) in Den Haag im Verlauf des Ersten Weltkriegs zum Einsatz und sollen dabei mehr als 90.000 Todesopfer unter Soldaten gefordert haben. Rund 1,3 Millionen kehren blind, entstellt oder verkrüppelt nach Hause zurück.
Haager Konventionen verbieten Chemiewaffen
Bereits vor dem Ersten Weltkrieg hatten sich alle europäischen Staaten und viele überseeische bei den Haager Friedenskonferenzen von 1899 und 1907 auf eine bis heute gültige Landkriegsordnung geeinigt. Durch sie ist im Kriegsfall unter anderem die Anwendung von „Geschossen, deren einziger Zweck es ist, giftige, erstickende oder totbringende Gase zu verbreiten“, sowie die „Anwendung von Giften und vergifteten Waffen“ verboten.
Im deutschen Einsatz von Gas am 22. April 1915 in Flandern sehen nicht nur die Entente-Mächte eine Verletzung dieses Kriegsrechtes. Er schadet dem internationalen Ansehen Deutschlands sehr und gilt vielen als Beweis, dass Menschlichkeit und vertragliche Abmachungen dem Deutschen Reich nichts gelten.
Am 25. September 1915 setzen auch Briten Giftgas ein
Fünf Monate später, am 25. September, setzen die Briten ihrerseits erstmals Giftgas bei der Ortschaft Loos im Artois gegen deutsche Soldaten ein.
Eine schauerliche Spirale beginnt sich zu drehen: Wurden zu Beginn chemische Waffen gegen einen ungeschützten Gegner eingesetzt, so sind bald neue Anwendungsmethoden und anders wirkende Kampfstoffe erforderlich, um den nun vorbereiteten Gegner außer Gefecht zu setzen.
Friedensvertrag von Versailles verbietet Chemiewaffen
Nach dem Ersten Weltkrieg wird Deutschland im Friedensvertrag von Versailles unter anderem die Entwicklung, Produktion und Einfuhr chemischer Waffen verboten. Entsprechende Klauseln sind auch in den Friedensverträgen der anderen ehemaligen Mittelmächte Österreich, Ungarn, Bulgarien und der Türkei verankert.
Nach den schrecklichen Erfahrungen des Krieges fordert die Weltöffentlichkeit darüber hinaus den Verzicht aller Staaten auf die Anwendung chemischer Waffen und eine allgemeine Abrüstung. Am 17. Juni 1925 unterzeichnen 30 Staaten das „Genfer Giftgasprotokoll“, das die Anwendung chemischer Waffen im Krieg verbietet. Die USA ratifizieren das Protokoll aber erst 50 Jahre später, Japan 45 Jahre später.
Entwicklung, Produktion und Einsatz von Giftgas geht trotz Verbots weiter
In fast allen Ländern geht die Entwicklung und Produktion von C-Waffen dennoch weiter. Die Vorstellung, chemische Waffen mit dem Genfer Protokoll abzuschaffen, erweist sich als Illusion. Allein zwischen 1925 und 1970 werden – auch von Unterzeichnerstaaten – in 21 Kriegen, Bürgerkriegen und Konflikten chemische Waffen eingesetzt. Zu diesem Ergebnis kommt 1971 das unabhängige Friedensforschungsinstitut SIPRI in Stockholm.
Dass im Zweiten Weltkrieg keine chemischen Waffen eingesetzt werden, obwohl auf beiden Seiten umfangreiche Bestände vorhanden sind, wird mit gegenseitiger Abschreckung nach den Erfahrungen des Ersten Weltkrieges erklärt.
Info: Giftgas in Kriegen
Fritz HaberKoordinator des Giftgaseinsatzes vom 22. April 1915 ist der Chemiker Fritz Haber (1868-1934). Nach dem Krieg bekommt er für die Synthese von Ammoniak aus Stickstoff und Wasser den Nobelpreis. Hat er den Einsatz bei Ypern noch von Berlin aus als Direktor des Kaiser-Wilhelm- Instituts für Physikalische Chemie koordiniert, so nimmt am 31. Januar 1916 die größte deutsche Einrichtung zur Herstellung von Gasmunition ihre Arbeit auf, der Gasplatz Breloh bei Munster. Auf 6500 Hektar arbeiten rund 6000 Mann an der Herstellung von Kampfstoffmunition und der Weiterentwicklung des C-Waffen-Arsenals. Das Kommando haben weiterhin führende Köpfe der chemischen Industrie. In Munster tragen sie Uniform.
Kampfstoffe im Ersten Weltkrieg
Chlorgas (chemisch Cl2): Das eingeatmete Gift greift Atemwege und Lunge an, führt zu Atemnot und schließlich zum qualvollen Tod. Wegen der Geschosse mit grüner Markierung wurde es auch Grünkreuz genannt.
Phosgen (COCl2): Der Stoff zersetzt sich mit Wasser in Kohlendioxid und Salzsäure. Die Lunge wird angegriffen, es kommt zu Ödemen, Atemnot und Tod.
Senfgas/Lost (C4H8Cl2S): In erster Linie ist es ein Hautgift. Die im Krieg auch Gelbkreuz genannte Substanz verätzt Schleimhäute, Augen und Atemwege. Auch neurologische Störungen sind möglich.
Chlorpikrin (CCl3NO2): Die Chemikalie hat ätzende Wirkung auf Augen und Haut. Als Reizgas kann sie Atemwege und Lunge schwer schädigen.
Buntkreuz Der Name steht für ein Gemisch von mehreren toxischen Stoffen - etwa Chlor und Phosgen oder Chlor und Chlorpikrin. Mit dem Krieg ist es nicht vorbei mit der Produktion immer neuer Substanzen. Nach Senfgas und Phosgen, nach Diphosgen und Chlorpikrin (Klop), nach Blaukreuz (Clark I und II) und Gelbkreuz, werden in den 1930er-Jahren Nervengase wie Tabun und Sarin entwickelt und später auch eingesetzt.