Die frühe dezentrale Wasserkraftnutzung

Historiker Gerhard Fritz zeigt beim Geschichtstreff auf, dass natürliche und künstliche Gewässer in und um Murrhardt eine bedeutende Rolle für Mühlenbesitzer und Flößer gespielt haben. Das so gut wie vergessene System sollte auf seine Potenziale und Gefahren hin geprüft werden.

Wenn der Feuersee abgelassen wird – hier im Jahr 2020 –, wird einem bewusst, dass er auch über den sogenannten kleinen Kehbach gespeist wird. Es dauert rund drei Wochen, bis der normale Stand durch den natürlichen Zulauf wieder erreicht ist. Archivfoto: J. Fiedler

© Jörg Fiedler

Wenn der Feuersee abgelassen wird – hier im Jahr 2020 –, wird einem bewusst, dass er auch über den sogenannten kleinen Kehbach gespeist wird. Es dauert rund drei Wochen, bis der normale Stand durch den natürlichen Zulauf wieder erreicht ist. Archivfoto: J. Fiedler

Von Elisabeth Klaper

Murrhardt. Das Wasser, Urelement des Lebens, nutzten auch die Menschen im Murrtal seit der Römerzeit für verschiedenste Zwecke. Dies verdeutlichte Historiker Professor Gerhard Fritz in seinem Vortrag „Flüsse, Bäche, Seen, Kanäle: Murrhardt und das Wasser – Das System natürlicher und künstlicher Gewässer“ vielen Interessierten beim jüngsten Geschichtstreff, gemeinsam veranstaltet vom Geschichtsverein Murrhardt und Umgebung und dem Carl-Schweizer-Museum.

„Wasser ist stärker als 100 Menschen“, deshalb war die Nutzung der Wasserkraft „atemberaubend groß“, zum Teil bis Anfang des 20. Jahrhunderts, unterstrich Fritz im Medienraum des Museums. Dies erfolgte in einem dezentralen, ökologischen System mit Mühlen: Allein auf Gemarkung der Walterichstadt gab es Dutzende von Getreide-, Säge-, Hammer- und Eisenschmiedemühlen entlang fast aller Gewässer, wie eine Karte im Mühlenatlas für den Kreis veranschaulicht. Normalerweise stand eine Mühle nicht direkt am Bach, sondern an einem davon abgezweigten Mühlkanal. So ließ sich das oft niedrige Gefälle über bestimmte Konstruktionen steigern, um das Wasserrad anzutreiben.

Die Hörschbachmühle fieldem Hochwasser zum Opfer

Die um 1830 gezeichneten Urkarten zeigen, dass die Mühlen in Murrhardt und Umgebung an mehreren Bächen angelegt waren. Viele waren nur wenige Hundert Meter voneinander entfernt, was oft zu nicht lösbaren Problemen und Konflikten zwischen benachbarten Müllern führte. Vor allem dann, wenn der „Oberlieger“, also derjenige am oberen Lauf des Gewässers, die Wasserkraft nutzte und den „Unterlieger“, also denjenigen weiter flussabwärts, entweder zu spät oder gar nicht darüber informierte. So gab es am Hörschbach oberhalb der Schwarzenmühle noch eine weitere Hörschbachmühle, von der heute nur noch ein paar Steinquader übrig sind, da einst ein Hochwasser das Gebäude wegriss.

Waren die Bäche zu klein, legten die Müller Schwellseen an, um das Bachwasser über mehrere Tage zu stauen, bis eine ausreichend große Wassermenge zum Antrieb des Wasserrads zur Verfügung stand. „Auf Murrhardter Gemarkung gab es etwa ein Dutzend solcher Mühlenschwellseen, die zum Teil noch als Feuerlösch- oder Fischteich genutzt werden“, erklärte der Historiker. Für Mühlen waren vor allem Hochwasser und Eis sehr gefährlich: Der enorme Druck „hat viele Wasserräder und Gebäude ruiniert“. Auch Scheiterholz, sprich Brennholz für den Großraum Stuttgart, das die Flößer mit großen Flößen zum Holzgarten nach Marbach am Neckar transportierten, riss öfters die Wasserräder weg.

„Flößer und Müller waren natürliche Feinde“, brachte der Historiker diesen Konflikt der Wasserkraftnutzung auf den Punkt. Für die Flößerei legte man ebenfalls Schwellseen an: Bei Hinterbüchelberg auf der Hochfläche im Bereich der Straße nach Wolfenbrück entdeckte Fritz gleich zwei etwa gegenüberliegende, künstlich angelegte größere Seen, die vermutlich diesem Zweck dienten. Beide Seen seien kaum noch bekannt, einer „liegt idyllisch im Wald verborgen“, vom anderen ist noch der Damm vorhanden, möglicherweise vertiefte man vorhandene Lehmgruben, um sie anzulegen.

Mit einer selbst gezeichneten Karte illustrierte der Historiker das ursprüngliche Gewässersystem im Raum Murrhardt: Der Kehbach, „der unbekannteste Bach von Murrhardt“, floss einst durch den Stadtgarten und das Areal der heutigen Walterichschule. Doch „die Römer leiteten ihn um“: Seitdem verläuft er völlig anders auf halber Höhe des Riesbergs. Früher floss er parallel an der Kastellmauer vorbei, diente zur Wasserversorgung und als Schutzgraben vor der Mauer. Weiter nutzten die Römer ihn zur Wasserversorgung ihres Bads, in dessen Nähe sich vermutlich auch eine Getreidemühle befand.

Mit einer weiteren selbst gezeichneten Karte veranschaulichte der Historiker das Gewässersystem im Bereich der Stadt und des Klosters vom Mittelalter bis um etwa 1800. „Murrhardt war von einem System künstlich angelegter Gewässer umgeben“: Etwa seit 1290 befand sich vor der Stadtmauer ein wassergefüllter Graben. Beim Kloster waren mehrere Seen als Fischreservoir für die Mönche angelegt: der große See im Bereich des heutigen Feuersees, unterhalb der Walterichsee, heute der untere Stadtgarten. Der sogenannte Feuersee im Bereich der heutigen Seegasse war indes nur klein und länglich.

Auch am Standort des Carl-Schweizer-Museums lag einst ein See: Vor Kurzem entdeckte dessen Leiter Christian Schweizer im Garten hinter dem Gebäude eine Vertiefung und in etwa vier Metern Tiefe einen sogenannten Mönch, ein Wasserbauwerk, das zum Stauen und zum Auslauf diente. Der vom Kehbach abgezweigte kleine Kehbach speist bis heute den Feuersee und trieb einst die Klostermühle an. Wann der Stadtgraben und die meisten anderen künstlichen Gewässer verschwanden, sei nicht genau bekannt: Zur Zeit des Stadtbrands 1765 waren sie noch vorhanden, nach 1800 nicht mehr. Möglicherweise füllte man den Graben beim Wiederaufbau mit Brandschutt.

Die Mühle am Obermühlenweg bekam 1942 noch eine neue Turbine

In der Stadt selbst nutzte man noch bis ins 20. Jahrhundert die Wasserkraft in mehreren Mühlen: Es gab die Obere Mühle beim heutigen Obermühlenweg, in die man noch 1942 während des Zweiten Weltkriegs eine neue Turbine einbaute und die Betriebe bis in die 1960er-Jahre nutzten. Wo heute das Parkhaus Graben steht, befand sich die Untere oder Nicolaimühle, ein paar Hundert Meter weiter die Burgermühle. Heute ist die Rümelinsmühle am Dentelbach die einzige auch noch mit Wasserkraft betriebene Mühle der Walterichstadt.

Anschließend verfolgten die Gäste des Geschichtstreffs mit Gerhard Fritz auf einem Spaziergang den Verlauf des Kehbachs, dessen kleiner Ableger den Feuersee speist. An der Riesbergstraße verschwindet der Bach im Untergrund, taucht erst am Schweizer-Areal wieder auf und mündet in die Murr. Abschließend erzählte der Historiker, dass es im Mittelalter zwei Badehäuser in der Stadt gab. Das Kehbachwasser versorgte das obere Badhaus gegenüber des heutigen Ärztehauses. Beim Thema Badehäuser räumte er mit einem Missverständnis auf, diese seien „Freudenhäuser“ gewesen: „Badehäuser waren Einrichtungen zur Körperreinigung und -pflege, Männer und Frauen waren strikt getrennt durch eine Bretterwand und es ging anständig zu“, betonte Gerhard Fritz.

Der Kehbach und seine Weiterleitung in einer Betonröhre könnte bei Starkregen zum Engpass werden

Potenzielle Gefahren Den Kehbach hatte man ab der Riesbergstraße in eine enge Betonröhre gezwängt, das Wasser floss zur Oberen Mühle. Deshalb besteht für Gerhard Fritz die Gefahr, dass „das Wasser sich bei Unwettern mit Starkregen staut, nichts mehr abfließen kann und alles durch die Innenstadt läuft“. Hochwassermarken bewiesen, dass es früher mehrfach Hochwasserkatastrophen gab, und da diese infolge des Klimawandels zunehmen, „sind sie jederzeit auch bei uns möglich.“ Infolge der Flussbegradigungen habe man die Talauen zugebaut mit Gebäuden, „die dort nie hätten hingebaut werden dürfen“, kritisierte Gerhard Fritz.

Neue(re) Projekte Zur Begradigung der Murr erläuterte Fritz: Bereits im Jahr 1896 diskutierte der Murrhardter Gemeinderat dazu den Vorschlag der königlichen Wasserbaukommission. Die Arbeiten starteten wenige Monate vor Beginn des Ersten Weltkriegs 1914, zogen sich bis zum Anfang der 1930er-Jahre hin und reichten bis zur Markungsgrenze bei Schleißweiler. Mit Blick auf das aktuelle Projekt zur städtebaulichen Weiterentwicklung des Schweizer-Areals, wo Wohngebäude, Kleingewerbe und Grünflächen entstehen sollen, schlug der Historiker vor, den Kehbach wieder stellenweise freizulegen. „Das wäre ein Trumpfass für die Planung und würde attraktiv aussehen“, deshalb sei diese Option zu prüfen.

Potenzial Wasserkraft Angesichts der aktuellen Herausforderung, unabhängiger von Energieimporten zu werden und möglichst viel Strom aus erneuerbaren Energiequellen zu erzeugen, „müsste ein Wasserbauingenieur berechnen, wie viel Wasserkraft im Raum Murrhardt zu gewinnen wäre“. Fritz bedauerte, dass seit den 1950er-Jahren und dem Mühlenstilllegungsgesetz die Wasserkraftnutzung „beinahe bei null“ liegt. Denn: „Den großen Energieversorgern waren die Mühlen als kleine Wasserkraftwerke lästig“, auch habe man damals geglaubt, mit Atomkraftwerken den Strombedarf der Zukunft decken zu können.

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Erstellt:
4. Mai 2022, 06:00 Uhr

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