Die Stadt beschaffte Schmalz aus Amerika

Das Krisenjahr 1923 in Murrhardt (1) Vor dem Hintergrund steigender Inflation und einer Bevölkerung, die sich nur noch das Nötigste leisten konnte, sorgte auch Murrhardt mit Lebenmittelkäufen für Bedürftige vor. Trotzdem oder gerade deshalb gab es Strafen gegen die Genusssucht.

Obwohl es wirtschaftlich schwierige Zeiten waren, zeigten sich die Murrhardterinnen und Murrhardter aktiv, engagierten sich in Vereinen und gründeten auch neue Gruppen wie den „Radfahrerverein Murrquelle“ Vorderwestermurr. Foto: Stadtarchiv Murrhardt)

Obwohl es wirtschaftlich schwierige Zeiten waren, zeigten sich die Murrhardterinnen und Murrhardter aktiv, engagierten sich in Vereinen und gründeten auch neue Gruppen wie den „Radfahrerverein Murrquelle“ Vorderwestermurr. Foto: Stadtarchiv Murrhardt)

Von Elisabeth Klaper

Murrhardt. Viele aufschlussreiche Informationen darüber, was im Krisenjahr 1923 in Murrhardt geschah, wie die Bürgerschaft den Alltag bewältigte und was das Stadtschultheißenamt, sprich die Stadtverwaltung unternahm, geben Artikel und Anzeigen im Jahrgangsband der Murrhardter Zeitung. Trotz der wirtschaftlich überaus schwierigen Situation blieb das kulturelle und gesellige Leben weiterhin überraschend breit gefächert.

Am Neujahrstag feierte der Turnverein Murrhardt (TVM) seine Jahresfeier mit Turnvorführungen, Musikdarbietungen, Tanz und Theaterstück. Doch bereits zu Jahresbeginn waren Grundnahrungsmittel enorm teuer und fünf Jahre nach Ende des Ersten Weltkriegs weiter nur gegen Marken erhältlich. Folglich konnte ein wachsender Teil der Bevölkerung sich kaum mehr das Nötigste leisten. Da die Behörden schwerwiegende gesundheitliche Auswirkungen befürchteten, beschaffte die Stadtverwaltung mehrfach teures Schmalz aus den USA, Kartoffeln und weitere Nahrungsmittel für Bedürftige.

Eine Haushaltsplanung wurde unmöglich, die Stadt musste Kredite aufnehmen

Im Januar gründete sich der Radfahrerverein „Murrquelle“ in Vorderwestermurr, dessen Mitglieder im Lauf des Jahres bei diversen Festen und Umzügen „akrobatische Kunststücke“ auch mit Hochrädern vorführten. Der (Arbeiter-)Gesangverein „Frohsinn“ gründete einen gemischten Chor. Als sich Wirtschaftskrise und Inflation durch die Ruhrkrise (siehe Infotext) verschärften, mussten Steuern, Gebühren, Tarife, Versicherungsbeiträge, Zeitungspreise und Mitgliedsbeiträge der Vereine immer weiter erhöht werden. Wegen den steigenden Kosten und sinkenden Steuereinnahmen war für die Stadtverwaltung keine normale Haushaltsplanung möglich. Darum musste sie mehrfach Kredite bei örtlichen Banken aufnehmen, um ihre Aufgaben zu erfüllen.

Um die Ortsarmen, wie sie damals genannt wurden, Kriegerwitwen und wohl auch arbeitsunfähigen Kriegsinvaliden kümmerte sich der städtische Wohlfahrtsausschuss. Er bekam viele Geld- und Sachspenden von Geschäftsleuten und ehemaligen Murrhardter Bürgern, die nach Amerika ausgewandert waren. Unter anderem bot diese Organisation kostenlose Kochkurse an, ebenso Näh- und Flickabende für Mädchen und Frauen. Die Ortslesebibliothek schaffte Zeitungen und Bücher an, um Familien zu unterstützen, die sich diese nicht mehr leisten konnten.

Gleichzeitig gab es aber offenbar auch in der Region Personen, die der „Vergnügungs- und Genusssucht“ frönten und sich „Luxus und Schlemmerei“ hingaben, was die Behörden mit hohen Geldstrafen bekämpften, ebenso den Alkoholmissbrauch. Um 22 Uhr war Polizeistunde, sprich Ende der Bewirtung in Gaststätten, öffentliche Fastnachts- und Tanzveranstaltungen waren verboten, ebenso verboten war das Tragen von Masken und Verkleidungen auf Straßen und Gassen. Betrunkene und rauchende Jugendliche unter 17 Jahren bestrafte man wegen „Erregung öffentlichen Ärgernisses“. Überdies veröffentlichte die Zeitung zahlreiche Verlobungs- und Hochzeitsanzeigen: Viele Frauen hofften wohl, in der Krise durch eine Eheschließung versorgt und abgesichert zu sein. Für die Volksschule führte die Stadt die Lernmittelfreiheit ein und beschaffte einen „Lichtbilderapparat“, sprich Diaprojektor. In Anzeigen riefen die Behörden die Bürgerschaft mit Erfolg zu „Volksopfer“ und „Ruhrhilfe“ genannten Spenden für die Bevölkerung des Ruhrgebiets auf. Zudem gab es Lebensmittelsammlungen.

Auf die Ruhrbesetzung durch französische und belgische Truppen am 11. Januar 1923 folgte passiver Widerstand

Einmarsch Wegen Rückständen bei Kohlelieferungen als Teil der Reparationen, sprich Wiedergutmachungsleistungen, die das Deutsche Reich an die Siegermächte des Ersten Weltkriegs leisten musste, marschierten französische und belgische Truppen am 11. Januar 1923 ins Ruhrgebiet ein. Daraufhin stellte die Reichsregierung alle Reparationszahlungen und Sachlieferungen an Frankreich und Belgien ein. Reichskanzler Wilhelm Cuno verkündete am 13. Januar im Reichstag den passiven Widerstand gegen die Besatzungstruppen im Ruhrgebiet, dessen Institutionen und Bevölkerung jegliche Zusammenarbeit mit den Besatzern verweigerten. Dies heizte die Inflation zusätzlich stark an, weshalb immer mehr Geldscheine mit immer höheren Nennwerten gedruckt werden mussten, auch um den passiven Widerstand und die Arbeiterschaft finanzieren zu können. Im März drohten die Besatzungsmächte im Ruhrgebiet die Todesstrafe für Sabotageakte und passiven Widerstand im Eisenbahntransportwesen an. Die von Reichspräsident Friedrich Ebert erlassene Verordnung über Spionage stellte die Zusammenarbeit mit den Besatzungsbehörden unter hohe Zuchthausstrafe. Französische Soldaten erschossen 13 Menschen, die im Essener Krupp-Werk mit vielen weiteren gegen die Beschlagnahmung von werkseigenen Kraftwagen protestierten.

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Erstellt:
19. August 2023, 06:00 Uhr

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