Strafrechtler über Sex-Vorwürfe vor Gericht
„Effektiver lässt sich ein Mann nicht ausschalten“
Falschverdächtigungen wegen sexueller Übergriffe sind für den Strafrechts-Professor Tonio Walter ein wachsendes Problem. Welche Motive er dafür sieht – und was er den Ermittlern rät.
Von Andreas Müller
Das Verfahren um den Inspekteur der Polizei hat Tonio Walter (53) mit Interesse registriert. Vor allem, dass das Gericht der Belastungszeugin am Ende nicht glaubte. Der Strafrechts-Professor an der Universität Regensburg, der in Freiburg studiert und promoviert hat, beschäftigt sich schon länger mit „Falschbeschuldigungen im Sexualstrafrecht“: Die seien ein wachsendes Problem – nicht nur für Männer, sondern für die Glaubwürdigkeit der Justiz insgesamt, schrieb er bereits 2020 in einem wenig beachteten Aufsatz für die Zeitschrift „Schweizer Monat“.
Unter dem Titel „Die dunkle Seite von #MeToo“ beleuchtete Walter damals die Folgen der Reform des Sexualstrafrechts: Jede sexuelle Handlung gegen den Willen eines anderen werde zur Straftat, auch ohne körperlichen Widerstand – das erhöhe die Gefahr von Verleumdungen. Drohungen oder gar Gewalt müssten nicht bewiesen werden, bei entgegengesetzten Aussagen entschieden die Richter frei, wem sie glaubten.
Nur selten hätten die Beschuldigten Glück wie zwei Männer, denen ein Dschungelcamp-Star vor einigen Jahren Vergewaltigung vorgeworfen hatte. Ein ohne ihr Wissen und Einverständnis entstandenes Video zeige „eine Frau, die ihren Spaß habe“, befanden Staatsanwältin und Richterin – und verurteilten das vermeintliche Opfer wegen falscher Verdächtigung. Solche Beweismittel oder neutrale Zeugen gebe es fast nie, weiß Walter. Meist stehe Aussage gegen Aussage. Verleumdungen seien häufiger als vermutet: das zeigten auch die Befunde von Ärzten. Im Verfahren um den Wettermoderator Kachelmann habe ein Rechtsmediziner ausgesagt, er gehe bei einem Drittel der Fälle von falschen Beschuldigungen aus. Die in seiner Opferambulanz untersuchten Frauen hätten sich die Verletzungen zu einem erheblichen Teil selbst beigebracht. In Rostock habe die Polizei laut einem Zeitungsbericht 80 Prozent der eingestuften Sexualdelikte als erfunden eingestuft. „Wer mit Polizisten vertraulich sprechen kann“, höre Ähnliches aus anderen Städten, konstatiert der Professor. Die Medien berichteten nicht gerne darüber – aus Sorge, als frauenfeindlich kritisiert zu werden. Untersuchungen über eine geringe Quote von Falschbeschuldigungen lässt Walter nicht gelten: selten seien alleine Strafverfahren, weil man die Lüge beweisen müsse; Geständnisse seien rar.
„Effektiver lässt sich ein Mann nicht ausschalten“
Walter sieht gleich mehrere mögliche Motive: mal seien Frauen psychisch krank, was gerne als Folge des „Übergriffs“ dargestellt werde, mal wollten sie Rache üben, mal in einem Trennungskrieg den Partner zum Auszug zwingen. Überhaupt gebe es „keinen effektiveren Weg, einen lästigen Mann auszuschalten“, als ihn eines sexuellen Übergriffs zu beschuldigen. Manche Frauen wollten auch „einen sexuellen Fehltritt kaschieren“: „Ich wurde vergewaltigt“ klinge besser als „ich bin fremdgegangen“. Zuweilen kämen falsche Vorwürfe auch unbewusst zustande – unter dem Einfluss von Alkohol oder suggestiver Befragung.
Auch ermitteln, was Vorwürfe erschüttern könnte
Für die zu Unrecht Beschuldigten seien die Folgen gravierend: „Der soziale Tod tritt sofort ein.“ Wer gar in Haft lande, stehe dort auf der untersten Stufe. Zum Glück hinterfragten Gerichte falsche Anschuldigungen stärker als Polizei und Staatsanwaltschaft, dadurch komme es zu der hohen Quote von Freisprüchen bei Sexualdelikten. Das empöre zwar viele, zeige aber das Funktionieren der Kontrollinstanz.
Die Hauptlehre lautet für Walter: „Polizisten, Staatsanwälte und Richter müssen die Unschuldsvermutung bei Sexualdelikten wieder ernster nehmen.“ Sie sollten den Frauen zwar mit Einfühlsamkeit und Verständnis begegnen, aber auch alles ermitteln, „was die Behauptungen erschüttern könnte“. „Das ist keine frauenfeindliche Schikane.“ Zudem empfiehlt der Professor, Glaubwürdigkeitsgutachten zu Belastungszeuginnen einzuholen und Beschuldigte am „Lügendetektor“ zu testen. Der Aufwand sei es allemal wert, um ein Fehlurteil zu verhindern.