Ein Drama, aber kein Betriebsunfall

VHS-Semesterschwerpunkt Europa: Ulrich Kühne blickt auf den Brexit und die Auswirkungen für Baden-Württemberg

„Kein Europa-Thema hat die Menschen in letzter Zeit so beschäftigt wie der  Brexit“, sagte Ulrich Kühne vom baden-württembergischen Ministerium der Justiz und Europa. Der Jurist, der dort unter anderem für EU-Grundsatzfragen zuständig ist, gab in seinem Vortrag im Casino der Kreissparkasse einen Überblick über den Stand des Scheidungsdramas. Dabei machte er deutlich, dass er es für ratsam hält, sich mit den Gründen für den Austritt auseinanderzusetzen.

Von Christine Schick

MURRHARDT. Mit einem Schmunzeln gab Ulrich Kühne zu: „Als die Anfrage der Volkshochschule Murrhardt zum Vortrag kam, dachte ich, aber im Mai ist das doch schon alles über die Bühne.“ In seinem Abriss rief er nochmals die wichtigsten Etappen des bisherigen Verlaufs in Erinnerung. Auch wenn die Abstimmung im Juni 2016 mit 52 Prozent zu 48 Prozent für den Brexit und einer Wahlbeteiligung von 52 Prozent nicht erdrutschartig ausfiel, „war es doch ein klares Ergebnis“. Die Gründe seien vielfältig, einiges lasse sich unter dem Stichwort Wiedergewinnung der Unabhängigkeit und Kontrolle subsumieren, beispielsweise in Bezug auf Beiträge, Steuern sowie die Steuerung von Zuwanderung, wobei in den Diskussionen des letzten Punktes meist nicht zwischen EU-Binnenmigration und der aus dem Rest der Welt unterschieden worden sei.

Eine der zentralen Schwierigkeiten für Kühne: Mit der Abstimmung über den Brexit war in keiner Weise klar, was danach kommt. Als Theresa May ihr Amt der Premierministerin übernahm, hat sie begonnen, diese Leerstelle zu füllen und rote Linien einzuziehen, sagte der Jurist, beispielsweise mit der Ansage, den Binnenmarkt und die Zollunion verlassen zu wollen, um selbst Freihandelsabkommen abschließen zu können. Da die Austrittsgründe aber vielseitig gewesen seien, habe sich auch eine lange Liste an Punkten ergeben, die mitunter den heutigen, schwierigen Stand ausmachten.

Genauso gab es für die EU klare Punkte, die sie bei den Austrittsverhandlungen einforderte. „Im Prinzip wollte man alles vermeiden, was der EU schadet“, insbesondere in den Bereichen Warenverkehr, Kapital, Dienstleistung und Arbeitskräfte. Nach der Austrittserklärung im März 2017 folgte das Austrittsabkommen im November 2018, das sozusagen die Scheidung organisiert und Punkte wie Bürgerrechte nach Statusänderung oder Waren im Verkehr festlegt.

Erst dann ging es um die Verhandlung über das künftige Verhältnis von England und der EU. Der größte Knackpunkt ist die Frage des Umgangs mit der Grenze zwischen Nordirland und Irland, die nach Beilegung des blutigen Konflikts und Bürgerkriegs zwischen Protestanten und Katholiken eine grüne ist. „Sie ist heute verschwunden, ein freies Reisen ist möglich, es gibt 30 000 Pendler“, sagte Ulrich Kühne. Sollte eine Einigung scheitern, es zu einem ungeregelten Brexit kommen und dort eine EU-Außengrenze entstehen, wird befürchtet, dass der Konflikt wieder aufflammt.

Um dies zu verhindern, plädieren EU-Politiker für den sogenannten Backstop, der zur Folge hätte, dass England so lange in der Zollunion bleibt, bis eine Lösung gefunden ist. „Brexitiers wie Boris Johnson wollen das nicht, weil sie befürchten, dass ein Backstop England für immer an die Europäische Union binden könnte.“

Auch wenn die Austrittsfrist nun auf den 31. Oktober 2019 verschoben ist, schließt dies für Ulrich Kühne auch einen harten Brexit immer noch nicht aus. Neuwahlen und ein erneutes Referendum hält er ebenfalls für keinen wirklichen Ausweg.

„Die Auswirkungen des Brexits für Baden-Württemberg sind vielfältig“, sagte er und betreffen Bereiche wie Datenaustausch auf polizeilicher Ebene oder länderübergreifende Zeugenvernehmung. „Im Zentrum steht aber die Wirtschaft.“ Kühne erläuterte, dass Großbritannien mit seiner Wirtschaftskraft ein entsprechendes Gewicht habe. Dies wirke sich auch auf den Handel aus, auf den Baden-Württemberg als Exportland angewiesen sei. Bereits jetzt sei ein Rückgang um 10,9 Prozent zu verzeichnen, der auf den  Brexitprozess zurückgeführt wird.

Aber auch in Bezug auf die Forschung wird sich die Trennung laut Kühne deutlich auswirken. Es habe zwischen eng lischen und baden-württembergischen Universitäten eine gute Zusammenarbeit gegeben. Die Zukunft von Projekten, die von Brüssel gefördert werden, könnten nicht mehr fortgeführt werden oder eine Beteiligung sei zumindest schwierig.

Ulrich Kühne stellt sich nun vor allem die Frage, welche Lehren sich aus dem Geschehen ziehen lassen. Sein eigenes Statement: „Ich denke, es ist wichtig, zu verstehen, dass der Brexit kein Betriebsunfall war.“ Zwar seien auch viele Lügen verbreitet worden, aber es habe klare Gründe für den Austrittswunsch gegeben. Einer der entscheidenden sei das Gefühl der Überregulierung in der Europäischen Union.

Für den Juristen geht es deshalb künftig darum, abzuwägen, wo gemeinsame Regelungen Sinn machen und wo man möglicherweise auf sie verzichten sollte. Seine Richtschnur ist dabei die Subsidiarität – ein gesellschaftspolitisches Prinzip, nach dem übergeordnete gesellschaftliche Einheiten nur solche Aufgaben an sich ziehen dürfen, zu deren Wahrnehmung untergeordnete Einheiten nicht in der Lage sind. Gleichzeitig plädierte Kühne dafür, sich die Errungenschaften und Potenziale der EU wieder bewusst zu machen. Neben dem Frieden seien dies viele Erleichterungen im Alltag genauso wie die Möglichkeit, im Verbund als gemeinsame Marktmacht aufzutreten, was auf rauem Terrain von Vorteil sein könne. Zu verteidigen gelte es auch zentrale Prinzipien wie Rechtsstaatlichkeit und Meinungs- und Pressefreiheit.

An den kompakten, klaren Vortrag schloss sich ein spannender Austausch mit dem Publikum an – über Themen wie die Frage nach dem künftigen Gleichgewicht der Mitglieder (Verhältnis Nord/Süd), den möglichen Kosten des Austritts für die verbleibenden Staaten oder die Kritikfähigkeit der Europäischen Union beziehungsweise das Nachdenken über sich selbst als Verbund.

Zum Artikel

Erstellt:
10. Mai 2019, 06:00 Uhr

Artikel empfehlen

Artikel Aktionen

Lesen Sie jetzt!

Murrhardt und Umgebung

Vereinstreue und Gesangskraft: Der Liederkranz wächst wieder

Der Murrhardter Verein mit seinem Chor Da Capo sieht sich auf gutem Weg. Bei der Mitgliederversammlung werden langjährige Mitglieder geehrt, bei den Wahlen treten viele wieder an.

Murrhardt und Umgebung

Von fairem Kaffee bis Sonnenstrom

Die Diakonie ambulant – Gesundheitsdienste Oberes Murrtal hat sich vor rund einem Jahr als „Faire Einrichtung“ auf den Weg gemacht. Sie setzt ihr Engagement fort, bei dem es auch darum geht, weitere Ansatzpunkte zu finden und das Thema nach außen sichtbar zu machen.