Eine Kinokarte kostete 1,2 Millionen Mark

Das Krisenjahr 1923 in Murrhardt (4 und Schluss) Im Herbst spitzten sich Inflation und Wirtschaftskrise dramatisch zu. Wegen des Mangels an Geldscheinen gab die Stadt eigene Notgeld-Kassenscheine heraus, die die Buchdruckerei Lang herstellte. Es gründete sich ein Kinoverein.

Im Gasthof zum Stern (Aufnahme um 1900) wurde 1923 im Obergeschoss das erste Murrhardter Kino eingerichtet. Foto: Stadtarchiv

Im Gasthof zum Stern (Aufnahme um 1900) wurde 1923 im Obergeschoss das erste Murrhardter Kino eingerichtet. Foto: Stadtarchiv

Von Elisabeth Klaper

Murrhardt. Da es wegen der Hyperinflation nicht mehr genug Geldscheine gab, ließ die Stadt nach Genehmigung durch das Reichsfinanzministerium ab dem 30. August Notgeld-Kassenscheine drucken. Sie trugen teils das Stadtwappen, teils Grafiken von der Stadt- und Walterichskirche sowie der Walterichskapelle. Die Aufschriften enthielten den Hinweis: „(...) zahlt die Stadtpflege in Murrhardt dem Einlieferer dieses Kassenscheins“. Die Buchdruckerei Lang, die auch den Lokalteil der „Murrhardter Zeitung“ herstellte, produzierte diese Scheine. Wegen des immer schnelleren Wertverfalls der Mark war die Stadtverwaltung gezwungen, sämtliche städtischen Gebühren immer weiter zu erhöhen, und für die Gemeindekasse sollte eine Rechenmaschine angeschafft werden. Einige aus dem Ruhrgebiet ausgewiesene Familien von Eisenbahnbeamten kamen in die Walterichstadt und fanden Unterkünfte in der „Kaffeemühle“ an der Riesbergstraße und in der Lutzensägmühle.

Anfang September gründete sich der Verein „Lichtspielgemeinde Murrhardt“ unter dem Vorsitz von Stadtschultheiß Karl Blum. Dessen Ziel war es, „technisch und inhaltlich gute (Stumm-)Filme“ im Saal des Gasthofs Stern vorzuführen, um „den Schmutz und Schund auf diesem Gebiet zu bekämpfen“ sowie als Ersatz für teure Theaterbesuche. Zur Premiere am 13. September zeigte man „Othello“, eine Verfilmung des Schauspiels von William Shakespeare; eine Karte kostete 1,2 Millionen Mark.

Ende September kehrten die Ruhrkinder in ihre Heimat zurück: In Murrhardt waren 44 Kinder bei 43 Familien untergebracht, „der Aufenthalt hat ihnen gutgetan“, lautete die positive Bilanz. Mit einer Spendensammlung deckte man die Kosten. Nach Verhängung des Ausnahmezustands (siehe Infotext) waren öffentliche Versammlungen und Umzüge im Freien verboten und in geschlossenen Räumen genehmigungspflichtig. Anfang Oktober endete der passive Widerstand im Ruhrgebiet: Die Ruhrbesetzung verursachte enorme Schäden, verschärfte die Krise und forderte über 120 Todesopfer. Trotz dieser schwierigen Situation unterstützte die Stadtverwaltung auch weiterhin Bedürftige, unter anderem mit Kartoffeln.

In der Zeitung erschienen immer mehr Tauschhandelanzeigen: Ein Inserent bot einen Herd gegen Weizen an, ein anderer Zement gegen Lebensmittel. Ende Oktober erfolgte die Aufhebung der Zwangswirtschaft wichtiger Grundnahrungsmittel. Für die evangelische Kirchengemeinde gab es eine Sammlung von Markscheinen mit niedrigen Werten, die sie als Altpapier verkaufte. Anfang November kostete ein Brot bis zu zwölf Milliarden Mark, die Inhaber von Läden und Geschäften verkürzten ihre Öffnungszeiten, um die hohen Kosten für Strom und Heizung einzusparen.

Mitte November folgte auf die Einführung der Rentenmark die Umstellung der Preise, Gebühren und weiteren Pflichtabgaben zum 1. Dezember, doch gab es in Süddeutschland anfangs zu wenige neue Geldscheine. Die Krise führte zu einer Auswanderungswelle, vor allem von Alleinstehenden, nach Nord- und Südamerika.

Die Nationalsozialisten versuchten die Macht an sich zu reißen

Politische Lage Die Reichsregierung ergriff Notstandsmaßnahmen wie Steuererhöhungen und führte eine Zwangsabgabe für die besetzten Gebiete an Ruhr und Rhein ein. Französische Truppen hatten auch Karlsruhe und Mannheim besetzt, die damals zur Republik Baden gehörten. Im September beendete die Reichsregierung den passiven Widerstand im Rheinland und nahm die Reparationslieferungen wieder auf. Reichspräsident Friedrich Ebert verhängte wegen der separatistischen Unruhen und Aufstände in verschiedenen Reichsgebieten den Ausnahmezustand.

Putschversuch In Berlin flimmerte der erste Tonfilm über die Kinoleinwand und war die erste Radiosendung zu hören. Am 9. November 1923 kam es in München zum Putsch der Nationalsozialisten: Adolf Hitler verkündete im Bürgerbräukeller die „nationale Revolution“, erklärte die bayerische Regierung für abgesetzt und proklamierte den „Marsch auf Berlin“. Doch die Landespolizei schlug den Putsch an der Feldherrnhalle gewaltsam nieder, die NSDAP wurde verboten und Hitler verhaftet.

Währungsreform Mitte November begann die Ausgabe der neuen Rentenmark: Für eine Billion Mark gab es eine Rentenmark, gedeckt durch Grundbesitz von Landwirtschaft, Industrie und Gewerbe. Durch diese Währungsreform verlor eine ganze Generation ihre Ersparnisse, betroffen war ein Großteil der Bevölkerung. Um die Wirtschaftskrise mit vier Millionen Arbeitslosen zu überwinden, setzte die Regierung zahlreiche Ausnahmebestimmungen zur Arbeitszeitverlängerung in Kraft. Dank starker Einschränkung der Geldmenge, drastischen Sparmaßnahmen im Reichshaushalt und hohen US-Krediten begann die Wirtschaft sich 1924 zu stabilisieren.

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Erstellt:
9. September 2023, 06:00 Uhr

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