Enge Verflechtung verringert Kriegsgefahr
Matthias Hofmann zeigt in VHS-Vortrag Chancen und Risiken der Globalisierung und des Selbstbestimmungsrechts der Völker auf
Können künftig Kriege eher durch die Globalisierung oder die Abspaltung und Bildung neuer Staaten verhindert werden? Diese Frage stand im Zentrum des Vortrags „Das große Fressen: Globalisierung kontra Selbstbestimmungsrecht der Völker“ von Matthias Hofmann an der Murrhardter Volkshochschule.
Von Elisabeth Klaper
MURRHARDT. Zunächst erklärte der Historiker und Orientalist im Zimmertheater des Grabenschulhauses die beiden Begriffe. Die Idee des Selbstbestimmungsrechts der Völker entstand im späten 18. Jahrhundert im Amerikanischen Unabhängigkeitskrieg (1775 bis 1783). Mitkämpfende französische Soldaten brachten sie nach Europa. Die Französische Revolution 1789 förderte die Bestrebungen im 19. Jahrhundert, Nationalstaaten zu bilden. Nach der Revolution 1848 entwickelte sich die Idee des Nationalitätenprinzips: Jede Volksgruppe hat das Recht auf einen eigenen Staat.
1918 legte US-Präsident Woodrow Wilson das Selbstbestimmungsrecht der Völker seinen Friedensbemühungen zum Ende des Ersten Weltkriegs zugrunde. Nach dem Zweiten Weltkrieg avancierte es zu einem Grundpfeiler der UN-Charta. Voraussetzungen dafür sind ein gemeinsames Gebiet und Ziel sowie Gemeinsamkeiten historischer, kultureller, sprachlicher und religiöser Art. „Theoretisch haben alle Völker das Recht auf Selbstbestimmung“, und die UN-Mitgliedsstaaten hätten dessen Verwirklichung zu achten und zu fördern, so Matthias Hofmann.
Der Begriff der Globalisierung entstand in den 1960er-Jahren, in den 1980er-Jahren wurde er allgegenwärtig: Er umschreibt die zunehmende internationale Verflechtung zwischen Personen und Gesellschaften, Institutionen und Staaten in vielen Bereichen wie Wirtschaft, Politik und Kultur. Diese erfolgte durch technische Fortschritte der Kommunikations- und Transporttechnologien wie Internet, Luftverkehr und effizienten Transport von Waren in Containern, Liberalisierung des Welthandels und Bevölkerungswachstum.
Nach dem Vorbild der als Wirtschaftsverbund gegründeten Europäischen Union könnten immer engere Verflechtungen zwischen den Staaten die Kriegsgefahr verringern. Aber: „Nur unter politischer Regie kann die Globalisierung Frieden stiften“, denn der Wettbewerb und die Gefahr von Konflikten um Rohstoffe nehme massiv zu. Insofern „geht es darum, die Wirtschaftstransportwege abzusichern“. Und: „Unabhängigkeitsbestrebungen sollten nicht auf wirtschaftlichen Gründen basieren, denn es sind keine Prognosen möglich, wie sich die Wirtschaft in Zukunft entwickelt“, betonte der Referent. „Jeder neu entstehende Staat muss von den UN anerkannt werden, dazu ist eine Abstimmung im UN-Sicherheitsrat erforderlich.“ Doch die fünf ständigen Mitglieder USA, Russland, China, Großbritannien und Frankreich haben ein Vetorecht. „Ohne Zustimmung des Sicherheitsrats gibt es keine Unabhängigkeit und keinen zweiten Versuch“, verdeutlichte der Historiker. An verschiedenen Beispielen zeigte er auf, wie schwierig es ist, das Recht auf einen eigenen Staat zu verwirklichen.
Bereits seit Gründung der Türkei nach dem Ersten Weltkrieg gab es die Autonome Region Kurdistan, doch kam es seitdem immer wieder zu Aufständen und Konflikten. Denn das rund 530000 Quadratkilometer große Siedlungsgebiet der rund 35,5 Millionen Kurden verteilt sich auf die Türkei, Syrien sowie den Irak und Iran. Nach einer ruhigeren Phase zwischen 2006 und 2015 unternimmt die Türkei seit Anfang 2018 immer wieder militärische Angriffe gegen die Kurden und marschiert in deren Gebiete in Nordsyrien und Nordirak ein. „Keiner hat ein Interesse an einem Kurdenstaat“, da dieser zulasten der bestehenden Staaten ginge, die brisante Situation in Nahost sowie die Gefahr neuer Flüchtlingswellen verschärfen würde, unterstrich der Referent.
Das Recht der Palästinenser auf einen eigenen Staat Palästina definierte bereits die UN-Resolution von 1947, auf deren Basis der Staat Israel gegründet wurde. Heute leben etwa 4,6 Millionen Palästinenser in autonomen Regionen in Israel und rund drei Millionen als Flüchtlinge in Jordanien und im Libanon. Ende November 2012 erhielt Palästina den Status eines Beobachterstaates bei den UN. Doch „Israel wird nie einer Zweistaatenlösung zustimmen, und die USA würden dagegen ihr Veto einlegen“. Der Konflikt zwischen Israelis und Palästinensern wäre nur zu überwinden, wenn man bereits den Kindern vermitteln könnte, dass auch auf der anderen Seite der Grenzen Menschen statt Feinde leben, machte der Orientalist deutlich.
Das Regionalparlament Kataloniens rief nach einem umstrittenen Referendum Ende Oktober 2017 die Region als eine von Spanien unabhängige Republik aus. Diese erklärte aber die spanische Regierung als nicht rechtskräftig, und die internationale Staatengemeinschaft erkannte sie nicht an. Die Neuwahlen zum Regionalparlament im Dezember 2017 führten bislang zu keiner politischen Lösung dieses Konflikts. „Katalonien ist der Wirtschaftsmotor Spaniens“, doch ein Austritt der Region zöge den Austritt aus der EU nach sich, sagte Hofmann.
Der Brexit werde für Großbritannien erhebliche wirtschaftliche Probleme nach sich ziehen. 2016 habe die von der Boulevardpresse beeinflusste Mehrheit der Briten für den Austritt aus der EU gestimmt, um das Geld, das sie bisher an die EU zahlten, in ihr kostenloses Gesundheitssystem zu stecken. Doch werde sich der Brexit wirtschaftlich ungünstig auswirken und zu einem „bösen Erwachen“ führen: „Großbritannien kann nur als Billiglohnland überleben“, sagte der Referent. Nachdem das britische Parlament dem Austrittsvertrag zustimmte, müsse nun ein neuer Vertrag mit der EU ausgehandelt und bis Ende Januar 2021 abgeschlossen werden.
„Die Globalisierung scheint trotz der Gefahr von Rohstoffkonflikten und wirtschaftlicher Dominanz am ehesten dazu geeignet zu sein, für den Großteil der Menschheit eine friedlichere Zukunft zu garantieren“, resümierte Matthias Hofmann.
Und für Regionen und Völker, die nach Unabhängigkeit streben, schlug er als Lösung vor, diesen eine weitestgehende Autonomie zu gewähren. Dazu sollten sie eine den deutschen Bundesländern vergleichbare Regierung erhalten, aber ohne eigene Außen- und Verteidigungsministerien sowie Militär.

„Unabhängigkeitsbestrebungen sollten nicht auf wirtschaftlichen Gründen basieren.“ Matthias Hofmann Historiker und Orientalist