Erinnerungsstoffe und ihre Verwandlung

Die Schweizer Künstlerin Pascale Grau zeigt einen Ausschnitt ihrer Arbeiten im Atelierfenster am Murrhardter Wolkenhof. Dabei spannt sie den Bogen von der Erfahrung des körperlichen Umgangs mit Kleidung bis hin zur Wiederverarbeitung zu Papier, das erneut Medium für Gedanken wird.

Pascale Grau befasst sich mit dem Thema Erinnerung. Sie spürt den Prozessen auf unterschiedlichen Ebenen nach. Foto: Stefan Bossow

© Stefan Bossow

Pascale Grau befasst sich mit dem Thema Erinnerung. Sie spürt den Prozessen auf unterschiedlichen Ebenen nach. Foto: Stefan Bossow

Von Petra Neumann

Murrhardt. Eine spannende Ausstellung ist zurzeit im Atelierfenster am Wolkenhof in Murrhardt zu sehen. Die Schweizer Künstlerin Pascale Grau zeigt unter dem Motto „Aus Falten und Überbleibseln“ einige ihrer Werke, die sich einem vielschichtigen Komplex widmen: der Erinnerung. Schon im Alter von 25 Jahren stand für Pascale Grau fest, dass sie sich bei ihrem künstlerischen Schaffen vor allem auf ein Thema konzentrieren wollte. Sie war darauf gestoßen, was den Menschen ausmacht: seine Erinnerungen und Erfahrungen. Damit einher ging die Erkenntnis, dass diese aber nicht einfach (nur) als Bilder abgespeichert, sondern mit Gefühlen vernetzt und somit schon einem Verarbeitungsprozess unterzogen sind. Sie werden ähnlich wie ein Stoff neu gewebt und können sich auch aus sich selbst heraus verändern. Somit war für die Künstlerin klar, dass nur ein Medium die Erinnerungen perfekt wiedergeben kann, nämlich Kleidung, die sich gleichsam als zweite Haut um die Trägerin oder den Träger schmiegt und viel von ihr oder ihm aufnimmt.

In der ersten Dekade (1985 bis 1995), während der sich Pascale Grau mit dem Thema beschäftigte, sammelte sie alle Kleidungsstücke, die ihr selbst viel bedeuteten, wusch und bügelte sie, um den Stoff mithilfe von Zellophan zu Zauberstäben umzugestalten. „In einer Installation habe ich solch einen Stab aufgewickelt und es war immens, welche Gefühle da in mir hochkamen“, sagt Pascale Grau über den Prozess und die angestoßenen Erinnerungen. Doch auf dieser anfänglichen Entwicklungsstufe wollte sie nicht stehen bleiben. In der zweiten Dekade (1995 bis 2005) zerschnitt sie ihre Lieblingskleider und häkelte mit dem aus dem Stoff gewonnenen Faden, gleich dem der Ariadne, zwei Sitzsäcke. Dazu erzählte sie vor der Videokamera von diesen Kleidungsstücken, in einer weiteren Sequenz sang sie auch Lieder. Der Betrachter saß beim Anschauen der Videos außerdem auf einem der Stoffsäcke und war somit Teil des Geschehens, wurde gleichsam in die Erinnerung mit eingewoben. In der dritten Dekade (2005 bis 2016) ersann sich Pascale Grau etwas sehr Raffiniertes. Sie nahm ihre Kleider, die aus Naturstoffen sein mussten, entfernte akribisch Reißverschlüsse, Knöpfe und Nähte und verarbeitete sie zwei Jahre später in der Papiermühle Basel zu Büttenpapier. Das war die erste Transformations- oder Verwandlungsstufe. Auf die Bögen schrieb sie in meditativem Zustand alles, was sie empfing. Allerdings verwendete sie das Papier immer wieder in Folge, überschrieb es mit Text immer wieder neu bis zur Unleserlichkeit – ähnlich wie bei einem sogenannten Palimpsest. Der Begriff steht für ein antikes oder mittelalterliches Schriftstück, bei dem der ursprüngliche Text abgeschabt oder abgewaschen und das danach neu beschriftet wurde, wobei der erste Schritt folglich fehlt.

Damit wird für Grau zum einen ausgedrückt, dass das Werk sich von ihr als Künstlerin gelöst hat, zum anderen werden die Erinnerungen mystifiziert, da sie dem Betrachter nicht sinnlich zugänglich sind, sondern nur durch ihre verrätselte Präsenz. Was ihr von ihren Notizen noch gegenwärtig war, fasste Pascale Grau in einer Kurzfassung zusammen, die ebenfalls in ein Video Eingang fand. Durch diesen mehrfachen Prozess der Verstoffwechselung schuf sie wie bei der Parfümherstellung einen Extrakt, der zu einer Essenz der Erinnerungen kondensiert wurde. „Diese Meditationen waren unglaublich anstrengend und ein sehr intensiver kreativer Akt“, verrät sie. Die Ausstellung ist so angelegt, dass die Zauberstäbe im Fenster erläutert werden, man kann auch einen Sitzsack sehen. Entscheidend sind das Video der dritten Dekade und der gesprochene Text, der über Kopfhörer von außen vernehmbar ist. Fazit: In einer Zeit der Überflutung mit Eindrücken, die das Gehirn radikal filtert, weil sie oft nicht die eigenen sind, ist der Zugang zur persönlichen Erinnerung ein spannender Prozess.

Kunstfenster Die Ausstellung „Aus Falten und Überbleibseln“ läuft bis zum 28. Mai im Atelierfenster, Wolkenhof 14, in Murrhardt. Sie ist von außen jederzeit einsehbar. Infos zur Künstlerin unter https://pascalegrau.ch.

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Erstellt:
19. April 2023, 06:00 Uhr

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