Staatsschulden
Europa taumelt am Rand einer Schuldenkrise
In mehreren EU-Staaten laufen die Haushalte aus dem Ruder. Das kann gravierende Folgen für die Währungsunion haben.
Von Knut Krohn
Europas Staaten ächzen unter gewaltigen Schuldenbergen. Wenig deutet darauf hin, dass die Regierungen ihre wirtschaftlichen Probleme bald in den Griff bekommen. Zudem verhindert das politische Chaos in einigen Ländern die notwendigen Reformschritte, was wenig Hoffnung auf positive Veränderung macht. Immer lauter werden die Warnrufe, dass diese Schuldenkrise den Euro in den Abgrund reißen könnte. Denn anders als vor knapp 15 Jahren taumelt nicht das kleine Griechenland, sondern wirtschaftliche Schwergewichte wie Frankreich, Italien oder Spanien. Alle drei Staaten lagen im vergangenen Jahr teils erheblich über den Maastrichter Referenzwerten. Die Schuldenquote betrug rund 137 Prozent (Italien), 111 Prozent (Frankreich) und 108 Prozent (Spanien) des BIP. Das Staatsdefizit lag bei 7,4 Prozent (Italien), 5,5 Prozent (Frankreich) und 3,6 Prozent (Spanien).
In Frankreich droht ein Teufelskreis
Mit größter Sorge blickt die Finanzwelt auf Paris. Dort droht der Mitte-Rechts-Regierung im Streit um einen dringend benötigten Sparhaushalt der Sturz durch die Opposition. Ohne einen überzeugenden Haushaltsplan könnte das Land aber in einen Teufelskreis zu geraten. Bereits in den vergangenen Wochen haben die großen Ratingagenturen Frankreichs Bonität herabgestuft. Lediglich die Agentur S&P gab der Regierung einen kleinen Vertrauensvorschuss und beließ die Kreditwürdigkeit bei „AA-“ und den Ausblick auf „stabil“. Die Hoffnung der Agentur ist, dass die französischen Behörden die dringende Haushaltskonsolidierung in Angriff nehmen werden. Angesichts der Pariser Chaostage ist das eine gewagte Annahme. Das Problem ist, dass schlechtere Bonitätsnoten der Ratingagenturen es für eine Regierung teurer machen, neue Kredite aufzunehmen und den bestehenden Schuldenberg zu refinanzieren.
Frankreich wird in dieser Krise zum Verhängnis, dass über Jahre das Ausmaß der Verschuldung verschleiert und die notwendigen Reformen verschleppt wurden. Einen ähnlichen Weg wählt im Moment Italiens Regierung. Laut der postfaschistischen Regierungschefin Giorgia Meloni ist die ökonomische Lage rosig. Die Wirtschaft wächst schneller als die der meisten anderen EU-Länder und die Arbeitslosigkeit ist so gering wie lange nicht mehr. Wenig Gehör bei der Chefin finden die Mahnungen von Finanzminister Giancarlo Giorgetti, der die Ausgaben des Staates beschneiden und die Steuern erhöhen will. Und es scheint nur eine Frage der Zeit, bis es etwa mit dem Koalitionspartner Forza Italia zur Konfrontation kommt, der im Wahlkampf noch eine Verdoppelung der Mindestrenten versprach. Im Moment kostet Italien allein die Tilgung der Zinsen jedes Jahr rund 100 Milliarden Euro, was in etwa den Ausgaben für die Bildung entspricht.
Nun greift der reformierte Stabilitätspakt
Angesichts dieser gefährlichen Entwicklung in der gesamten EU hat Brüssel Anfang dieses Jahres nach langen Verhandlungen den rund 25 Jahre alte Stabilitäts- und Wachstumspakt einer Reform unterzogen. Die Schuldenregeln sollen „einfacher, transparenter und effektiver“ werden. Hauptziel ist es, das Regelkorsett lockerer zu schnüren und besser an die jeweiligen Mitgliedstaaten anzupassen. Auf dieser Grundlage wurde etwa Italien und Frankreich erlaubt, den Schuldenabbau über sieben statt der üblichen vier Jahre zu strecken. So können sie einen weniger harten Sparkurs fahren. Allerdings fordert die zuständige EU-Kommission von beiden Regierungen, ihr „Wachstums- und Resilienzpotential“ zu steigern. Als Beispiele nennt sie ein effizienteres Steuersystem in Italien und den geplanten Abbau bürokratischer Lasten für Unternehmen in Frankreich.
Das Ansteigen der Staatsschulden verbinden Experten auch mit den zunehmend instabilen politischen Verhältnissen in immer mehr EU-Ländern. In Frankreich ist mit dem Zerfall der traditionellen Volksparteien und der Zersplitterung der politischen Landschaft seit fast zwanzig Jahren eine Entwicklung zu beobachten, die inzwischen auch Deutschland erreicht hat. Frankreich zeigt, dass Regierungen in solchen Situationen der Unsicherheit geneigt sind, Wahlgeschenke zu verteilen und weiter Schulden zu machen. Zudem ist in Paris viel Geld in die Sozialsysteme gepumpt worden, um Ungleichheiten aufzufangen und damit den Aufstieg der Rechtspopulisten zu bremsen – allerdings mit wenig Erfolg.
Alles auch eine Frage des Vertrauens
Der Wirtschaftsprofessor David de la Croix von der Katholischen Universität Löwen betont, dass die Entwicklung natürlich mit objektiven Zahlen, aber auch sehr viel mit Vertrauen zu tun habe. In Belgien, das seit Monaten ohne Regierung ist, wird die drohende Schuldenkrise sehr genau beobachtet, weil den Haushältern auch dort das Wasser bis zum Hals steht. Für das kommende Jahr wird in Brüssel ein Defizit von fast 5 Prozent erwartet und eine Schuldenquote von 107 Prozent.
David de la Croix formuliert in einem Interview mit der Tageszeitung „Le soir“ ein Beispiel für zwei Staaten mit exakt denselben wirtschaftlichen Grunddaten. Im einen Fall haben die Finanzmärkte Vertrauen, dass die Schulden bezahlt werden können. Die Regierung gelangt deshalb relativ einfach an neues Geld. Im anderen Fall sei dieser Glaube nicht vorhanden, beschreibt der Ökonom. Es würden deshalb immer höhere Risikoprämien verlangt, der Staat könne sich nicht mehr selbst finanzieren, die nächste Stufe sei der Zahlungsausfall. Im Moment sei das System stabil, sagt David de la Croix, doch der Fall von Griechenland habe gezeigt, dass ein Staat schnell von einer Situation in die andere fallen könne.