Firmen legen sich mächtig ins Zeug
Stellenanzeigen über Bodenbilder an S-Bahn-Stationen, flexible Arbeitszeiten, Viertagewoche, Sabbatical – Arbeitgeber lassen sich einiges einfallen, um dem Fachkräftemangel zu begegnen. Wie Lage und Strategien im Kreis aussehen.
Von Christine Schick
Rems-Murr. Markus Beier, Geschäftsführer der IHK Rems-Murr, stellt ohne Umschweife fest: „In den nächsten 15 Jahren werden wir bei der Fachkräftesituation in einen Riesenmangel hineinlaufen.“ Schon jetzt blieben viele Lehrstellen unbesetzt. Dem Trend, dass junge Leute immer mehr auf Studium statt Ausbildung setzen, hält er eine Studie entgegen, die zeigt, dass das Lebenseinkommen von Akademikern im Schnitt erst mit rund 60 Jahren über dem von jemand im Ausbildungsberuf liegt. Ob Unternehmen oder Handwerksbetrieb – die Arbeitgeber sind sich sehr bewusst, dass sie mit der schwierigen Situation umgehen müssen, wie eine Umfrage ohne Anspruch auf Repräsentativität zeigt.
Die Firma Holp in Murrhardt-Fornsbach steht insofern vor einer besonderen Herausforderung, weil sie künftig wachsen wird. Als die Coronakrise anrollte, hatte sie mit einem Firmenneubau in der Nähe des bisherigen Standorts begonnen. Die Krise bedeutete Baustopp, ausbleibende Aufträge, Kurzarbeit. „Wir haben die Zeit für Entwicklungsarbeit genutzt, um die Strukturen zu verbessern“, sagt Geschäftsführer Günter Holp. Der Hersteller von Spezialwerkzeugen für die Baubranche hat den Vertrieb ausgebaut und die Lager gefüllt. Nun sieht sich das Unternehmen gut aufgestellt, investiert mehr als geplant – aus fünf sind sieben Millionen Euro geworden. Günter Holp sieht große Potenziale, benötigt allerdings auch Fachkräfte, um die Pläne umzusetzen. Zurzeit noch rund 30 Mitarbeiter groß könnte und sollte das Team in fünf Jahren auf 90 Mitarbeiter angewachsen sein. In welchem Bereich suchen sie? „Technische Konstrukteure, Einkäufer, Schlosser, Mechaniker, Zerspaner, Buchhalter“, sagt Holp. Vor rund fünf Jahren hat er mit Stellenanzeigen Furore gemacht, die auf Schwäbisch daherkamen, insofern ins Auge fielen und für Gesprächsstoff sorgten. Nun hat er erst einmal ein großes Schild am Neubau aufgestellt und hofft, dass es potenziellen Kandidaten auffällt, die mit dem Zug in Richtung Stuttgart regelmäßig dort vorbeikommen. Nicht pendeln zu müssen, spart Zeit. Auch der Teamspirit ist ihm wichtig. Neuestes Projekt in dieser Hinsicht: bei der Hitze die Mittagspause nutzen und um eine halbe Stunde verlängern, sodass alle ein paar Runden im nahe gelegenen Waldsee schwimmen gehen können.
Das IT-Unternehmen L-Mobile Solutions in Sulzbach an der Murr steht mit Blick auf den Fachkräftemangel ebenfalls vor einer großen Herausforderung, erklärt Marketingleiter Christian Gmehling. Schon vor rund fünf Jahren habe sich Handlungsbedarf abgezeichnet. „Softwareentwickler sind mit der Digitalisierung mittlerweile in allen Branchen gesucht.“ Über einen tunesischen Mitarbeiter habe man zunächst gedacht, in dem afrikanischen Land begehrte Fachleute rekrutieren zu können, mittlerweile gibt es aber dort einen Standort mit rund 80 Mitarbeitern, was sich als die bessere Lösung herauskristallisierte. Doch braucht das Haus auch in Deutschland weitere Unterstützung. Die Firma mit zurzeit 240 Kräften geht davon aus, dass die Zahl bis 2030 bezogen auf alle Standorte – Deutschland, Tunesien, Ungarn, Frankreich und Spanien – 1000 Mitarbeiter umfasst. Die drei Rekruter haben jede Menge zu tun, stoßen an ihre Grenzen. „Wir stellen mittlerweile bundesweit ein“, sagt Gmehling, was heißt, dass die Teammitglieder auch vom gesamten Land aus remote (über den Computer) arbeiten. Um neue Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter aber gut einarbeiten zu können, gibt es nun auch ein Folge- beziehungsweise Parallelprojekt: Im Neubau des Unternehmens mit Investitionskosten von rund 13 Millionen Euro werden im obersten Stockwerk 14 Apartments entstehen, damit die Angestellten ein- bis zweimal im Monat für einige Tage in Sulzbach sein können. Diese Flexibilität setzt sich auch im Alltag fort, Homeoffice und Remotearbeit bedeutet, dass es „Shared Desks“ (geteilte Schreibtische) gibt, weil einfach weniger Personen vor Ort arbeiten und das flexibler gehandhabt wird. „Eine Präsenzpflicht gibt es nicht mehr“, sagt Gmehling. Wichtig sei aber gleichzeitig, sich live zu sehen, um eine Unternehmenskultur zu etablieren.
Auch bei Harro Höfliger in Backnang, der über 1600 Mitarbeiter beschäftigt, ist die Fachkräfteakquise ein Dauerbrenner. Dabei kommt ein ganzer Strauß an Strategien zum Einsatz, berichtet Personalreferentin Eva Beutelspacher. Zu ihnen gehören „Active Sourcing“ (Recherche, Ansprache und Rekrutierung potenzieller Mitarbeiter) über soziale Netzwerke und Plattformen, aber auch klassische Plakatwerbung – beispielsweise als Bilder auf dem Boden an der S-Bahn-Station der Universität Stuttgart. „Wir bemühen uns in allen Richtungen“, sagt sie. Die Nachwuchsarbeit ist für sie mit die wichtigste und erfolgreichste Strategie. Ein Beispiel ist, dass SPS-Programmierer in der „Steuerungstechnikakademie“ von erfahrenen Kräften vorqualifiziert werden, um gut eingearbeitet zu sein. „Das funktioniert ähnlich wie bei der Lehrlingsakademie.“ Nicht zu vernachlässigen seien auch die Rahmenbedingungen, sprich ein gutes, sicheres Arbeitsumfeld mit Entwicklungsmöglichkeiten für die Mitarbeiter. Flexible Arbeitszeit, Sabbatical und Modelle wie Brückenteilzeit sind weitere Bausteine.
Viele dieser Angebote können Handwerksbetriebe potenziellen Mitarbeitern nicht oder nur sehr begrenzt machen. Sie kämpfen schon seit zehn bis 15 Jahren mit fehlendem Interesse der Jugendlichen, einen handwerklichen Beruf zu erlernen, stellt stellvertretender Kreishandwerksmeister Herbert Titze fest. „Ganz massiv vom Fachkräftemangel betroffen sind die Metzger und Bäcker, Maler und Stuckateure.“ Silke Kühnle von der Backnanger Metzgerei Kühnle berichtet, dass sie im Verkauf wie auch in der Produktion Kräfte suchen. Das Unternehmen setzt dabei vor allem auf Sichtbarkeit und unkomplizierte Kontaktaufnahme – beispielsweise mit Schaufensterplakaten, QR-Codes, Handzetteln und Blitzformularen für eine Online-Bewerbung. Auch der Backnanger Malermeister Andreas Nagel macht in regelmäßigen Abständen in dieser Hinsicht auf sich aufmerksam – mit einem großen Schild auf seinem Einsatzfahrzeug des Betriebs Maler Fischer. Die offene Gesellen- und Meisterstelle konnte er trotzdem nicht besetzen und stockt nun bei der Ausbildung auf. Aus einer Lehrlingsstelle sind drei geworden.
Für Herbert Gräßl, stellvertretender Vorsitzender des Unternehmerforums Oberes Murrtal (Ufom), liegt eine zentrale Aufgabe darin, Jugendlichen realistische, aktuelle Berufsbilder zu vermitteln. Bei dieser Arbeit, die sich das Ufom im Rahmen verschiedener Projekte mit Schulen auf die Fahnen geschrieben hat, spielen aus seiner Sicht die Eltern als Verbündete und Brückenbauer eine wichtige Rolle.
Auch der Bereich Pflege ist besonders betroffen. In den Rems-Murr-Kliniken macht sich der Fachkräftemangel insbesondere im Ärztlichen sowie im Pflege- und Funktionsdienst bemerkbar, aber auch bei weiteren Positionen mit hoher Qualifikation wie etwa medizinisch-technischen Radiologieassistenten. „Wir reagieren darauf, indem wir einerseits unseren eigenen Nachwuchs generieren und unser Ausbildungsangebot erweitern“, berichtet Christine Felsinger vom Unternehmenskommunikationsteam. „Speziell um Pflegekräfte zu gewinnen, gestalten wir unseren Bewerbungsprozess nach außen so einfach und effizient wie möglich, damit das Schreiben von Bewerbungen keine wertvolle Freizeit beansprucht.“ Zudem werden die Vorteile einer Tätigkeit in den beiden Häusern herausgestellt – Vereinbarkeit von Familie und Beruf, gute Planbarkeit (früher Dienstplan, an Kinderbetreuungszeiten angepasst) und guter Zusammenhalt in stabilen Teams.
Außerdem wurde die Stationsarbeit neu organisiert und ein Leitungssystem in der Pflege mit klaren Ansprechpartnern beispielsweise für persönliche Anliegen und organisatorische Fragen eingeführt. Seit einem Jahr haben neue Pflegekräfte die Möglichkeit, in einem Rotationssystem mehrere Stationen eines Pflegebereichs kennenzulernen. „Darüber hinaus bauen wir sukzessive das Spektrum unserer Mitarbeiterrabatte für Einkauf, Sport, Freizeit und Mobilität aus, und im Rems-Murr-Klinikum Winnenden profitieren Eltern von unserer Kinderbetreuung. Last, but not least haben wir inzwischen 100 Personalwohnungen gebaut für insgesamt zwölf Millionen Euro, was gerade in der Region Stuttgart ein großer Mitarbeitervorteil ist“, so Felsinger. „Das alles macht deutlich, dass wir in den Rems-Murr-Kliniken beim Gewinnen der besten Fachkräfte nicht nur nach außen werben möchten, sondern stetig innen optimieren. Damit drehen wir unser Bewerbungsverfahren um: Wir bewerben uns mit unseren Vorteilen bei den Kandidatinnen und Kandidaten.“
Weiterbildung Nach der Einschätzung der Agentur für Arbeit in Waiblingen macht sich der Fachkräftemangel in fast allen Bereichen bemerkbar, besonders betroffen sind aber Handwerk, Gastronomie, Pflege und Gesundheit, Erziehungs- und Lehrberufe, sozialer Bereich, IT, Ingenieur- und Konstruktionswesen und Baugewerbe. Es gibt einen ganzen Strauß an Initiativen, Förderprogrammen und Kooperationen. Exemplarisch sei hier die Fachkräfteallianz F.A.I.R. genannt. Beim nächsten Treffen im Oktober geht es ums Thema „Weiterbildung für Ihr Personal – Zukunft für Ihr Unternehmen“.