Flucht vor den Nazis in letzter Minute

Christian Schweizer zeigt in seinem Vortrag über die Familie Nägele die intensive Verbindung von deren Mitgliedern zu Handwerk, Kunst und Kultur, Demokratie und Politik auf. Das Referat ist Teil des Rahmenprogramms zur Sonderausstellung über Reinhold Nägeles grafisches Werk.

Familientreffen, aufgenommen 1931 zum 75. Geburtstag von Eugen Nägele in Tübingen. Reinhold Nägele steht in der zweiten Reihe ganz rechts, vorne in der Bildmitte sitzt Eugen Nägele, Mitbegründer des Schwäbischen Albvereins. Foto: Carl-Schweizer-Museum

Familientreffen, aufgenommen 1931 zum 75. Geburtstag von Eugen Nägele in Tübingen. Reinhold Nägele steht in der zweiten Reihe ganz rechts, vorne in der Bildmitte sitzt Eugen Nägele, Mitbegründer des Schwäbischen Albvereins. Foto: Carl-Schweizer-Museum

Von Elisabeth Klaper

Murrhardt. „Die Familie Nägele hat das Image unserer Stadt nachhaltig geprägt“: Mit Ferdinand, Eugen und Reinhold stellte sie drei Ehrenbürger, verdeutlicht Heimatgeschichtsforscher Christian Schweizer. Im Zentrum seines Vortrags zur Sonderausstellung „Reinhold Nägele – das grafische Werk“ in der städtischen Kunstsammlung stehen neue Erkenntnisse über den Künstler und seine Familie aus Archiv- und Privatdokumenten.

Im 16. Jahrhundert gab es Glasbearbeitungsspezialisten im Raum Schwäbisch Gmünd und Lorch, in der Walterichstadt seit dem 15. Jahrhundert eine Handwerkerfamilie namens Nägelin/Nägele. Als „hochengagiertes Multigenie“ bezeichnete Schweizer den (Kunst-)Schlossermeister Ferdinand Nägele (1808 bis 1879), Revolutionär, Demokrat und großdeutscher Linker in der Nationalversammlung 1848. Ebenso dessen Sohn Eugen Nägele (1856 bis 1937), „Fünf-Minuten-Onkel“ genannt. Der Gymnasialprofessor und Demokrat, Natur- und Kulturschützer, Mitbegründer des Schwäbischen Albvereins und Jugendherbergswerks unterstützte die Wandervogelbewegung, die Bündische Jugend und ließ sich nicht von den Nationalsozialisten vereinnahmen.

Düstere Bilder als Vorausahnung

Der 1884 im Gasthof Engel geborene Kunstmaler Reinhold Nägele schuf 1905 das einzige bekannte Bild der Murrhardter Ziegelhütte. Im Ersten Weltkrieg war er Fliegerbeobachter und Luftbildauswerter, was ihn zu Vogelperspektive- und Nachtbildern inspirierte. Mit spitzer Feder karikierte er die luxussüchtige Offiziersgesellschaft, dokumentierte zeitkritisch politische Konflikte in der Weimarer Republik und sah das Unheil der NS-Diktatur in düsteren Visionen voraus. 1921 heiratete er die 1890 geborene Alice Nördlinger, promovierte Dermatologin und Fachärztin für Haut- und Geschlechtskrankheiten aus einer jüdisch-schwäbischen Kaufmannsfamilie, deren Netzwerk auch die Textilfabrikantenfamilie Fritz Elsas umfasste.

In der Hyperinflation 1923 entwarf Reinhold Nägele einen 5000-Mark-Heimatnothilfegeldschein. Ob er auch Murrhardter Notgeldscheine gestaltete, ist noch unklar. Ein einmaliges historisches Dokument ist sein Nachtbild der Walterichswallfahrt 1925. Als den „schwarzen Tag“ karikierte er den 30. Januar 1933: „Doderers kriegen Kohlen und Adolf Hitler die Macht.“ Mit den drei Pfeilen, Anti-Nazi-Symbol der Eisernen Front aus SPD, Gewerkschaften und weiteren demokratischen Organisationen, konnte man das Hakenkreuz übermalen.

Im Juli 1939 trat die Familie letztmals öffentlich bei der Einweihung der Gedenktafel für Eugen Nägele auf. Gewarnt vom gut informierten Neffen Hans-Peter Nägele mussten Reinhold und Alice am 25. August 1939 Murrhardt fluchtartig verlassen. In letzter Minute gelang ihre Rettung, da ein Freund sie nach Stuttgart fuhr. Dort verabschiedeten sie sich von Alices Mutter Helene, die später von NS-Schergen in Theresienstadt ermordet wurde. Kurz vor Schließung der Grenzen und Beginn des Zweiten Weltkriegs kamen sie über Paris nach Großbritannien, wo sich bereits die drei Söhne befanden.

Reinholds Bruder, der Zivil- und Militärarzt Otto Nägele, dessen Frau Augustine Elsässerin war, sei während des Zweiten Weltkriegs nicht verschollen, sondern in Stuttgart kurz vor Kriegsende als Deserteur erschossen worden, vermutet Schweizer. Denn im Hauptstaatsarchiv Stuttgart fand er Akten über ein vom Land nicht anerkanntes Wiedergutmachungsverfahren. Die Familien Nägele und Scholl waren befreundet und Teil eines Netzwerks verschiedener Widerstandskreise. Bei einem Gerichtsprozess lernten sich Hans-Peter Nägele und Hans Scholl kennen, beide waren Medizinstudenten und Sanitätsoffiziersanwärter im „Anti-Hitler“-Reiterregiment 18.

Nägeles Erinnerungen lassen vermuten, dass der Name der Widerstandsgruppe „Weiße Rose“ auf seine Schwester Rose zurückgeht, zu der Hans Scholl eine besondere Beziehung hatte. Um sie zu schützen, behauptete er in Verhören, ein Romantitel sei Namensgeber gewesen. Ein umfangreiches Aktenbündel im Hauptstaatsarchiv zum Wiedergutmachungsverfahren, darunter ein Brief von Theodor Heuss, dokumentiert die Versuche, Reinhold Nägele samt Familie zur Rückkehr in die Heimat zu bewegen, doch er kam erst nach Alices Tod 1961 und starb 1972. Die Erforschung der Familiengeschichte stehe erst am Anfang, da es nur wenige schriftliche Quellen gebe und einige noch Sperrvermerke tragen, so Briefe im Institut für Zeitgeschichte München, die „dringend aufgehoben werden müssen“, forderte Christian Schweizer. Denn: In Murrhardt lebt kein Familienmitglied mehr. Erst wenn die weltweit verstreuten, teils aber zum Vortrag angereisten, zuhörenden Angehörigen, Freunde und Bekannten Schriftzeugnisse zur Verfügung stellen und die wissenschaftliche Aufarbeitung unterstützen, wie Reinholds Enkel, der Journalist Jolyon Naegele, ist es möglich, ein vollständiges Bild zu erhalten und offene Fragen zu beantworten.

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Erstellt:
27. Juni 2023, 06:00 Uhr

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