Fragen ist das A und O der Begegnung
Simon Maier vom Kreisjugendring und Wilhelm Schneck vom Theater Lockstoff sind im Heinrich-von-Zügel-Gymnasium Murrhardt zu Gast. Im Rahmen des Compassionprojekts und -unterrichts berichten sie über sich und ihre Geschichte sowie das Projekt „Die Inklusiast:innen“.
Von Christine Schick
Murrhardt. Im Heinrich-von-Zügel-Gymnasium gehört Compassion, das sich als Mitgefühl übersetzen lässt, in der 9. Klasse als eine Art Spezialfach mit zum Unterricht. Ähnlich wie die Betriebs- und Berufsorientierung ein Jahr später, bietet die Schule dabei über Wissensvermittlung, Referentinnen und Referenten, Exkursionen, Gäste sowie ein Praktikum in einer Einrichtung die Chance, in sozialer und integrativer Hinsicht über den eigenen Tellerrand beziehungsweise den bisherigen Erfahrungshorizont hinauszuschauen. Wie findet sich ein Blinder im Alltag zurecht? Was bedeutet es, wenn das Gedächtnis langsam verloren geht? Wie sieht ein Arbeitstag in einer Behindertenwerkstatt aus?
Mitgefühl und die Fähigkeit, sich in jemanden hineinzuversetzen, dessen Leben sich aufgrund von Beeinträchtigungen anders gestaltet, können nicht zuletzt über Begegnung und den gemeinsamen Austausch gefördert werden. Das ist auch die Überzeugung von Simon Maier vom Kreisjugendring Rems-Murr und Wilhelm Schneck vom Theater Lockstoff in Stuttgart, die bei einer Compassiondoppelstunde zu Gast sind.
Einblick in ein persönliches Schicksal
Die beiden kennen sich schon länger und arbeiten gemeinsam zudem an thematisch passenden Projekten. Kein Wunder also, dass sie sich in der Gesprächsrunde mit den Schülerinnen und Schülern die Bälle zuspielen. Sie wollen dabei aber nicht zu zweit bleiben und kitzeln aus ihren jungen Zuhörerinnen und Zuhörern immer wieder Fragen heraus. So erfahren diese, dass bei Simon Maier aufgrund von Sauerstoffmangel bei der Geburt körperliche Schäden entstanden sind, weshalb er auch im Rollstuhl sitzt. „Ich kann den linken Arm nicht so strecken wie den rechten und die Spastik schlägt ab und zu auf die Sprache nieder“, erzählt er. „Wenn ich mich freue oder erschrecke, kann es sein, dass sich die Beine nach vorne ausstrecken, deshalb sind sie auch festgeschnallt.“ „Dass sie nicht Reißaus nehmen“, sagt Wilhelm Schneck mit einem Augenzwinkern. „Keine Angst, ich lauf dann nicht los“, kontert Simon Maier.
Er erzählt viel Persönliches, beispielsweise wie seine Mutter im Kindergarten inklusive Pionierarbeit geleistet und ihn dort begleitet hat, von Schulwechseln und seiner Arbeit beim Kreisjugendring, bei dem er das Thema Inklusion auch als Projektreferent betreut. Genauso erfahren die Neuntklässler, dass es nicht gerade ein Zuckerschlecken ist, als Rollstuhlfahrer von A nach B zu kommen beziehungsweise zu reisen. Im Flugzeug geht er da als Simon „Charly“ Maier an den Start, wobei man wissen muss, dass „Charly“ die interne Bezeichnung eines Passagiers mit Handicap ist. „Das ist aufwendig, falls der Charly erst einsteigt, wenn die anderen schon sitzen, weil die Träger Platz brauchen und dann alle noch mal aufstehen müssen.“ Auch das Bahnfahren braucht Vorplanung, Antrag und große Bahnsteige, und weil im Arbeitsalltag die technischen Voraussetzungen bei Bussen nicht immer gegeben sind, hat Simon Maier einen festen DRK-Fahrer.
Die Runde erfährt von weiteren Alltagsdetails wie den festen Pflegefachkräften, die ihm beim Duschen und Anziehen helfen. „Meine Frau ist voll berufstätig und unterstützt mich schon genug.“ Es wird klar, dass sein Leben ziemlich anders aussieht, das er gleichzeitig mit unheimlich viel Humor bewältigt. Manchmal erlebt es Simon Maier, dass Kinder ihm neugierig Fragen stellen, die Eltern da aber eher abwiegeln.
Auch vor diesem Hintergrund möchte er sich im Rahmen eines neuen Projekts weiter engagieren, um offenere Begegnungen zu schaffen, aufzuklären und voneinander zu lernen. Unterstützung erhalten er und das Inklusionsteam dabei vom Theater Lockstoff. „Fragen zu stellen, ist gut“, sagt Wilhelm Schneck. „Es gibt keine falschen Fragen.“ Sie sind letztlich das Pfund, mit dem das Projekt „Die Inklusiast:innen“ auch wuchern möchte. Denn Kindern und Jugendlichen fällt es (noch) leichter, direkt zu fragen, was sie interessiert, und so können Brücken entstehen. Als „Inklusiast:innen“ sind dabei neben Simon Maier neun weiteren Mitstreiterinnen und Mitstreiter mit ganz verschiedenen Beeinträchtigungen am Start, wie jemand, der an Autismus leidet, an Epilepsie, den Folgen eines Schlaganfalls oder der blind ist. Sie werden gemeinsam mit Wilhelm Schneck, Hannah Hess und Jakub Kurt vom Theater Lockstoff erarbeiten, was sie später Kindern und Jugendlichen vermitteln möchten und was möglicherweise dabei noch unterstützen kann wie ein Film aus „Rollstuhlperspektive“.
Erfahrungen aus erster Hand
Die betreuenden Lehrerinnen Bianca Balszuweit und Peggy Bauer sowie Schulsozialarbeiter Tobias Brändle erklären, dass solch ein Perspektivwechsel auch ein ganz wichtiges Element beim Unterricht ist. Die Neuntklässler sind in der Hinsicht auch nicht mehr ganz unerfahren. Frederik Becker, Patrick Gruschka, Hannah Hecklin und Antonija Schuster berichten davon, was sie beim Compassionprojekt bisher besonders beeindruckt hat. Es wird zusammengetragen: selbst testweise im Rollstuhl unterwegs sein, sich auf einem Blindenparcours zurechtfinden oder tastend ein Buch mit Blindenschrift kennenlernen. Die vier haben wie auch alle anderen außerdem bereits ein einwöchiges Praktikum absolviert. Antonija Schuster und Frederick Becker haben in der Hörschbachschule unterstützt. „Ich hab mit den Kindern beispielsweise gespielt“, erzählt die Neuntklässlerin. „Die Lehrerinnen haben sich viel Mühe gegeben, uns einzubinden und gute Aufgaben zu stellen“, erinnert sich Frederick Becker. Hannah Hecklin hat den Alltag im Pflegeheim Fritz erlebt, Essen ausgegeben, Pflegekräfte begleitet. „Das waren viele neue Erfahrungen.“ Patrick Gruschka hat mit zwei weiteren Mitschülern bei der Arbeit der Paulinenpflege in einer Einrichtung in Murrhardt geholfen und ist in Betreuungssituationen eingetaucht. Das Fazit der vier ist eindeutig: Praktikum und Kennenlernen haben geholfen, sich in die Menschen hineinzuversetzen.
Für das pädagogische Team ein wichtiger Schritt. „Ziel ist es ja auch, möglichst frühzeitig für diese Themen zu sensibilisieren“, sagt Bianca Balszuweit. Ihre Kollegin Peggy Bauer ergänzt: „Zum Erwachsenwerden gehört ja auch die Persönlichkeitsentwicklung, und in einem Praktikum können Fähigkeiten gefordert sein, die im Unterricht nicht unbedingt abgerufen werden.“
Das Angebot Das Compassionprojekt besteht aus drei Modulen. Es werden beispielsweise eine Werkstätte der Paulinenpflege Winnenden und die Bodelschwinghschule besucht. Umgekehrt sind Fachleute in der Schule zu Gast. Inhaltlich befassen sich die Jugendlichen mit Autismus, Gehörlosigkeit, Blindheit, dem Alter und der Arbeit des Sozialverbands VdK. Die Neuntklässler machen Praktika beispielsweise in Pflegeheimen, Werkstätten für Menschen mit Behinderungen, Einrichtungen für psychisch Kranke, für Menschen mit Sprach-, Seh- oder Hörbeeinträchtigungen, integrativen Kindergärten oder integrativen Schulen. Die Einsätze werden sowohl mit den Schülern als auch den Betrieben besprochen. Neben einrichtungsspezifischen Rückmeldungen taucht öfters auf, dass sich die Schüler sogar mehr Zeit fürs Praktikum gewünscht hätten.
Das Projekt „Die Inklusiast:innen“ läuft in Verantwortung des Kreisjugendrings – bis 2025. Die Projektleitung hat Simon Maier, die pädagogische Leitung seine Kollegin Nurcan Dikme Yasar. Nach der Vorbereitungsphase mit den zehn Akteurinnen und Akteuren ist 2024 geplant, zur Umsetzung nach außen zu gehen, um Kinder und Jugendliche zu erreichen. „Die Inklusiast:innen“ wird gefördert aus Mitteln der Deutschen Fernsehlotterie.