Geheimnisse eines Gotteshauses
Semesterschwerpunkt Frankreich: Petra Neumann stellt bei Volkshochschulvortrag die Kathedrale von Chartres vor
MURRHARDT (pm). Im Rahmen des Volkshochschulsemesterschwerpunkts „Frankreich“ hat Petra Neumann im Grabenschulhaus über die beeindruckende Kathedrale von Chartres referiert, die zu den bedeutendsten heiligen Stätten der abendländischen Kultur zählt. Die Kathedrale von Chartres gilt als der Höhepunkt der gotischen Kirchenbaukunst, heißt es im Bericht über den Vortrag. In ihr vereint sich eine außergewöhnliche Lichtmetaphorik mit der sakralen Symbolkraft der Zeit des ausgehenden 12. und beginnenden 13. Jahrhunderts.
Eine wichtige Reliquie in der Kirche ist ein Tuch, bekannt als Sancta Camisia, von dem heute ein 30 mal 30 Zentimeter großes Stück ausgestellt wird. Es soll im Jahr 876 von Karl dem Kahlen gestiftet und in einer Vorgängerkirche aufbewahrt worden sein. Nach der Überlieferung hat Maria es bei der Verkündigung durch den Erzengel Gabriel getragen. Chartres ist „Unserer Lieben Frau“ geweiht und daher als Marienkirche eine Stätte der Wiedergeburt des Menschen. Aus diesem Grund wurde auch niemand in der Kirche beerdigt, erläutert der Bericht weiter.
Die Kathedrale birgt einige Geheimnisse. So ist beispielsweise unklar, wie eine Kathedrale dieses Ausmaßes in kurzer Zeit (1194 bis 1260) errichtet werden konnte. Es wird angenommen, dass der Templerorden Geld und Handwerker zu Verfügung stellte. Aber auch die Lehrmeister der berühmten Schule von Chartres, die viel Wert auf die Lehre der sieben freien Künste – Grammatik, Dialektik, Rhetorik, Astronomie, Musik, Arithmetik und Geometrie – legten, haben wohl maßgeblichen Einfluss auf die vielen Darstellungen in und an der Kirche gehabt. Tatsächlich ist das Gotteshaus ein Archiv aller wichtigen Erkenntnisse und Historien der biblischen und antiken Epoche. Viele Deutungen ranken sich um die besonders beeindruckende harmonische Geometrie der Fenster, Portale, Säulen oder dem Vierungsmaß. Das Verhältnis vom Goldenen Schnitt soll neben der heiligen Geometrie die Erkenntnis des Schönen verleihen. Dank der neuen Bautechnik mit Strebepfeilern konnten die Wände ihrer Stützfunktion enthoben werden. Da sie nicht mehr aus massivem Mauerwerk bestehen mussten, konnten sie mit großen Fensterflächen durchbrochen werden. Deshalb kam den Kirchenfenstern große Bedeutung zu, wurden sie doch als Medien verstanden, durch die das göttliche Licht in all seinen Spektralfarben leuchten kann.
Der Begründer der Gotik war Abt Suger, der die Kathedrale St. Denis auf der Île-de-France gebaut hat und Kontakt zu den kirchlichen Vertretern in Chartres pflegte. Er war fasziniert von der Lichtmetaphysik des sogenannten Pseudo-Dionys. Sie konstatiert, dass Gott sich durch das Sonnenlicht auf Erden manifestiert. Sein Farbenspiel findet sich im natürlichen Zustand in Kristallen, aber auch in eingefärbtem Glas, das gleichsam den Glanz des himmlischen Jerusalems im Kirchenraum erstrahlen lässt, so die Vorstellung. Je nach Sonnenstand erscheint es im Inneren der Kathedrale in zarten Rot- oder Violett-Tönen oder in dem typischen, warmen Chartres-Blau. Dieser besondere Blauton wurde für seine beeindruckende Wirkung berühmt.
Die Referentin erläuterte, dass das magische Farbenspiel auf den Pilgernden den Eindruck erweckt, als sei man im Inneren eines Kristalls. Auch wies sie auf das berühmte Labyrinth hin, das so angelegt ist, dass zwar der Pilger immer das Zentrum, also die Rückkehr zu Gott erreicht, aber viele Umwege nehmen muss. Es handelt sich dabei also nicht um einen Irrgarten, sondern um eine Metapher für den mühsamen Lebensweg.