Gelungene Gratwanderung

Das Jugendzentrum Murrhardt besteht seit 50 Jahren. Als selbstverwaltetes Haus ist es alles andere als selbstverständlich, dass sich immer wieder engagierte junge Menschen finden, die Verantwortung übernehmen. In den Anfängen mussten sie dafür auch regelrecht kämpfen.

Von 1981 bis 1986 residierte das Jugendzentrum in der Grabenstraße. Fotos: MZ Archiv

Von 1981 bis 1986 residierte das Jugendzentrum in der Grabenstraße. Fotos: MZ Archiv

Von Titus Simon

Murrhardt. Das Jugendzentrum hat ein besonderes Jubiläum gefeiert. 50 Jahre besteht nun der Verein, der unverändert als Träger des mittlerweile zweitältesten noch existierenden selbstverwalteten Jugendzentrums in Deutschland fungiert. Eine Rückschau zeigt, dass dessen Geschichte von Höhen und Tiefen geprägt war. Vor allem aber lässt sich feststellen, dass es immer gelungen ist, wieder neue Aktive für die Idee und die Aufgaben zu begeistern.

Die erstmals 1972 erhobene Forderung nach einem selbstverwalteten Murrhardter Jugendzentrum entsprach dem damaligen Zeitgeist. Landauf, landab – vor allem in der Provinz – entstanden Vereine und Initiativen, die sich für dieses Ziel engagierten. Diese Impulse führten im November 1972 zu einem Treffen von rund 20 Jugendlichen und jungen Erwachsenen, die im Gasthof Engel die „Aktion Jugendzentrum Murrhardt“ aus der Taufe hoben. Ein erster „vorläufiger“ Vorstand wurde gewählt. Das erste noch erhaltene handschriftliche Protokoll weist die Namen Holger Papsdorf, Titus Simon, Gerald Hönig, Ute Horn, Karl-Heinz Weinmann, Hans-Georg Feldwieser und Gerhard Ihle aus.

Jugendlichen wollen demonstrieren

Nachdem der damalige Bürgermeister Helmut Götz nicht bereit war, mit einer Initiative zu verhandeln, wurde 1973 der Verein Jugendzentrum Murrhardt gegründet. Bis zum Sommer 1976 waren alle Raumvorschläge durch die Stadtverwaltung verworfen worden: zu teuer, kein Standort, Verkehrsprobleme, mögliche Schwierigkeiten mit der Nachbarschaft. Daraufhin wurde im Sommer 1976 zu einer Demonstration aufgerufen, an der sich auch die Aktiven anderer Jugendzentren des Landkreises beteiligt hätten. Mit einem Mal machte die Verwaltung das Angebot, das Obergeschoss der Stadthalle als vorübergehende Bleibe zu nutzen. Der Verein Jugendzentrum blies daraufhin die geplante Demonstration ab und machte sich daran, die Räume zu renovieren. Am Tag der geplanten Demonstration wurden die neuen Räume eingeweiht. Diese wurden sehr gut angenommen. Dieser an sich erfreuliche Umstand machte dem noch neuen Provisorium ein rasches Ende. Trotz Protesten wurde es aufgrund einer „für diese Zwecke“ nicht ausreichenden Statik und fehlender Fluchtwege geschlossen. Eine Unterschriftenaktion im Jahr 1977 erbrachte 1700 Unterstützungsunterschriften von Murrhardter Bürgerinnen und Bürgern für die Einrichtung eines Jugendzentrums. Mittlerweile trafen sich die Aktiven im Oetingerhaus und planten kleinere Veranstaltungen, die im Engel- oder im Reinhold-Nägele-Saal stattfanden. An verschiedenen Orten trafen sich Arbeitsgemeinschaften, darunter auch eine Zeitungs-AG, die zwischen 1977 und 1991 für das alternative Monatsblatt „Podium“ verantwortlich war.

Umbau in der Grabenstraße und Ziele

Nach zähen Verhandlungen erfolgten Verständigungen über das Raumprogramm und den städtischen Zuschuss zum Ausbau der ehemaligen Möbelwerkstätte in der Grabenstraße. Es folgte eine knapp einjährige Umbauphase, in der es eine überraschend unkomplizierte Zusammenarbeit zwischen dem Murrhardter Bauhof und den Vereinsmitgliedern gab. Letztere leisteten über 5000 ehrenamtliche Arbeitsstunden. Zwischen September 1980 und März 1981 wurde unter Mitwirkung von über 50 Ehrenamtlichen der vordere Teil des Gebäudes umgebaut. Rasch etablierten sich im neuen Haus vier Schwerpunktsetzungen, die auch heute noch als typisch für eine gute offene Jugendarbeit anzusehen sind:

ein unstrukturierter, gelingender Alltag, der es erlaubt, das Jugendzentrum als „elternfreies Wohnzimmer“ zu nutzen, ohne dass immer gleich etwas „Sinnvolles“ getan werden muss.

Zugang für Kinder und Jugendliche aus „schwierigen Verhältnissen“, mit denen – entsprechend den personellen Möglichkeiten – möglichst langfristig pädagogisch gearbeitet wird.

Demokratiebildung über die Selbstverwaltungsaufgaben und -erfahrungen.

Entwicklung und Förderung jugendkultureller Ausdrucksformen.

Letzteres wurde ab 1982 in viel beachteten Nachwuchsfestivals realisiert, an denen sich nicht nur zahlreiche Jugendliche beteiligten. Sie wurden zu regelrechten Zuschauermagneten.

1986 wurde mit dem Umbau der früheren Gewerbeschule in der Oetingerstraße begonnen. 125000 D-Mark stellte die Stadt Murrhardt bereit. Der städtische Bauhof erbrachte Facharbeiterleistungen im Wert von 70000 D-Mark. Und die Leistungen der Jugendlichen und ihrer Unterstützer summierte sich auf etwa 50000 D-Mark. Die Koordination übernahm der frühere Vorstand Axel Wieland, der als erste hauptamtliche Kraft beschäftigt wurde. Neue Erfahrungen wurden gemacht: mit Nachbarschaftskonflikten, der Nähe zu den Schulen und neuen kulturellen Formaten. Was in der Grabenstraße das „Nachwuchs-Festival“ war, wurde im neuen Domizil die „Heinz-Bauer-Show“. Brunch und Schülercafé waren neue Angebote.

Jugendkultur im Stadtgarten

1987 wurde eine im Stadtgarten durchgeführte Jugendkulturwoche maßgeblich vom Jugendzentrum mitgetragen. Mehrere Tausend Besucher strömten in das dort aufgestellte Zelt. Später entwickelte sich daraus ein eigenständiges Format: der Sommerpalast. Im selben Jahr wurde eine Partnerschaft mit dem katalanischen Jugendklub „Falcons“ begründet. Einzelne private Kontakte halten bis heute an.

Es folgte eine mit Krisen durchsetzte Phase, in der es vor allem an Aktiven mangelte. Zudem war es manchmal schwierig, die frei gewordene hauptamtliche Stelle zu besetzen. Dies führte immer wieder dazu, dass vormalige Aktive als Honorarkräfte oder vorübergehende Vertretungen einsprangen. Immerhin drei Hauptamtliche waren über mehrere Jahre hinweg erfolgreich tätig: Gerhard Dinger, Nicole Larsen und Nicole Martin.

1998 kam es zu einer stärkeren Konturierung der wichtigsten Aufgabenbereiche. Im Erdgeschoss wurde von den Hauptamtlichen die Arbeit mit Jüngeren verantwortet. Im oberen Stock wurden Räume umgestaltet, die ehrenamtlich betrieben wurden. 2005 bis 2007 konnten die damals verantwortlichen Ehrenamtlichen auf Initiative von Familie Schwarzmann in Verhandlungen mit der Stadt erreichen, dass die bislang als Büchereiparkplatz genutzte Fläche dem Juze als neuer Treffpunkt zugesprochen wurde. Damit stand der Einrichtung ein Außengelände für Feste, Konzerte und weitere Veranstaltungen zur Verfügung. Das Material für die Hütte im Außenbereich wurde von Murrhardter Unternehmen gesponsert. Der Aufbau erfolgte vollständig in Eigenleistung. Durch die Verlagerung des Geschehens wurden Konflikte mit den Nachbarn reduziert und zugleich neue Möglichkeiten und Entfaltungsräume für die Jugendkulturarbeit geschaffen.

Sowohl die Ehrenamtlichen als auch die 2020 neu eingestellte Fachkraft Nico Tolve wurden durch die zurückliegende Pandemie hart getroffen. Pädagogische Arbeit bestand vor allem aus Streetwork und der Kommunikation über soziale Medien. Bandproben und Veranstaltungen fielen aus. Der Vorstand musste permanent improvisieren, um die Aufgaben des Vereins weiterzuführen. Erst 2022 lief die Einrichtung wieder in „Normalbetrieb“. 2023 ist es den Ehrenamtlichen gelungen, zusätzliche attraktive Veranstaltungen anlässlich des 50-jährigen Bestehens des Vereins auf die Beine zu stellen.

Eine interessante Übersicht zum Schluss: Die Sichtung der Archive hat ergeben, dass die Aufgaben während der letzten 50 Jahre von elf Hauptamtlichen, zirka zehn Honorar- und Kurzzeitkräften, 25 Praktikanten und Projektbeschäftigten sowie rund 1000 Ehrenamtlichen getragen worden ist.

Die Street-Punk-Band Los Fastidios aus Verona war die Hauptgruppe beim Open-Air-Konzert zum 45. Geburtstag des Jugendzentrums. Da ging bei den Besuchern so richtig der Punk ab. Archivfoto: Jörg Fiedler

© Jörg Fiedler

Die Street-Punk-Band Los Fastidios aus Verona war die Hauptgruppe beim Open-Air-Konzert zum 45. Geburtstag des Jugendzentrums. Da ging bei den Besuchern so richtig der Punk ab. Archivfoto: Jörg Fiedler

Blick in den großen Raum im Erdgeschoss – schon im heutigen Haus in der Oetingerstraße3, während eines Jugendforums im Mai 1995.

Blick in den großen Raum im Erdgeschoss – schon im heutigen Haus in der Oetingerstraße 3, während eines Jugendforums im Mai 1995.

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Erstellt:
13. Juli 2023, 06:00 Uhr

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