Gemeinsamer Alltag heißt, dazuzugehören
Lilia Perne geht ins Heinrich-von-Zügel-Gymnasium Murrhardt und ist in der fünften Klasse. Die Zehnjährige hat Glasknochen. Nach anderthalb Jahren kann sie wieder ohne Rollstuhl unterwegs sein und auf die Hilfe ihrer Schulbegleiterin Sonja Fischer zählen.

Lilia – damals noch im Rollstuhl – macht mit einem flauschigen kleinen Kerl bei einem privaten Treffen in Käsbach Bekanntschaft. Sie möchte später gerne beruflich mit Tieren zu tun haben. Foto: privat
Von Christine Schick
Murrhardt. Beim Treffen mit Lilia und ihrer Familie – ihren Eltern Renate und Jan Perne sowie ihrer drei Jahre jüngeren Schwester Elina – kommt die Zehnjährige mit ihrer Oma und einem Lächeln zur Haustür hinein. Die beiden waren zu Fuß auf einem kleinen Ausflug. Das ist noch nicht lange so selbstverständlich möglich, denn Lilia oder Lili, wie viele die Zehnjährige auch nennen, war bis vor einigen Wochen noch auf den Rollstuhl angewiesen. Im Herbst 2021 war sie zu Beginn des Familienurlaubs gestürzt. Für Lilia ist das generell gefährlich, weil sie Glasknochen hat. Als sich starke Schmerzen meldeten, zeigten die Röntgenbilder zahlreiche Wirbelfrakturen, erzählt Renate Perne. „Wenn Lilia der Rücken wehtut, setzt sie sich auch jetzt manchmal noch in den Rollstuhl.“
Stellt sich die Frage, wie der Alltag mit Schule und ihren Herausforderungen für die Zehnjährige aussieht. „Na morgens steh ich ganz normal auf“, sagt sie und grinst. Ins Gymnasium geht es mit ihrer Schulbegleiterin Sonja Fischer, die selbst drei Jungs hat und insofern auch vertraut mit der Schule und den Abläufen ist. „Ich kann nicht rennen und geh die Treppen ungern“, sagt Lilia. Aber es ist ihr auch wichtig, dass sie ihre Mitschüler nicht anders behandeln als sie das bei ihren Klassenkameraden tun. „Sonst fühl ich mich, als würde ich nicht dazugehören.“ Dass trotzdem eine gewisse Vorsicht und Rücksichtnahme gut ist, versteht sich vermutlich von selbst. An Empathie mangelt es dem ersten Eindruck nach auch nicht, manchmal kann der Wunsch, Lilia zu helfen, sogar zu viel werden. Sonja Fischer jedenfalls unterstützt die Zehnjährige auch in den Momenten, in denen sich die Schmerzen melden und sie sich mal schnell hinlegen muss. „Ich schaue dann, dass nicht zu viele zu ihr kommen, die helfen möchten“, sagt sie.
Im Fach „Basiskurs Medienbildung“ schaltet sich Lilia per Video zur Klasse
Gut ist, dass ein großer Teil des Unterrichts für die Fünfer in ihrem Klassenzimmer auf Ebene drei stattfindet. Ein Fachraum des treppenförmig in den Hang gelegten Gebäudes mit insgesamt sechs Stockwerken ist für Lilia nicht zu erreichen. Für das Unterrichtsfach „Basiskurs Medienbildung“, bei dem das zur Hürde wird, gibt es dennoch eine Lösung, die seit Corona selbstverständlicher geworden ist. Lilia bleibt im Klassenzimmer und schaltet sich per Videokonferenz mit dem Computer dazu. Ein höhenverstellbarer Tisch hilft zusätzlich im Alltag. Auch das Treppensteigen in Begleitung ist wieder möglich. „Manchmal gehen wir auch in die Mensa“, erzählt Sonja Fischer. Die ist im Beddoglötzle, einem kleineren Gebäude gegenüber untergebracht.
Später, zurück zu Hause, heißt es, sich die Hausaufgaben vorzunehmen. „Im Moment muss sie viel lernen“, sagt Renate Perne. Ebenfalls auf dem Plan stehen Übungen für den Rücken. Dann ist meist noch Zeit beispielsweise für einen Film oder eine Aktion in der Küche. „Ich backe und koche gern“, sagt Lilia. Im Idealfall geht es auch mal zum Schwimmen ins Backnanger Wonnemar oder eine Freundin kann zu Besuch kommen. Die Zehnjährige erzählt von Halloween, bei dem die Kinder sich klingelnd in der Nachbarschaft umgetan sowie selbstbewusst reimend Süßes gefordert haben und dabei ziemlich erfolgreich waren. Gut so, denn die Familie lebt noch gar nicht so lange in Murrhardt, ist im Februar 2022 von Kirchberg an der Murr in die Walterichstadt gezogen. Sie hatte sich nach einer Möglichkeit, zu bauen, umgesehen. „Meine Mutter hat den Bauplatz in Murrhardt gefunden“, erzählt Jan Perne. Der Preis machte das Projekt möglich, das sie aus heutiger Sicht wohl so nicht mehr hätten stemmen können. Für Jan Perne, der als Ingenieur in Stuttgart arbeitet, ist das Pendeln mit der Bahn schon zeitaufwendig, gleichzeitig hat die Familie mit Haus und Garten nun mehr (Frei-)Raum.
Der Umzug vergangenes Jahr war für Lilia dann im Herbst auch mit dem Neustart in der fünften Klasse im Gymnasium verbunden. Ihre Schwester Elina geht vor dem Hintergrund des Rett-Syndroms mit einer autistischen Symptomatik in die Bodelschwinghschule Murrhardt. Renate Perne ist mit den beiden Bildungseinrichtungen sehr zufrieden, lobt das Engagement der Schulen. Im Fall des Heinrich-von-Zügel-Gymnasiums hat die Stadt Murrhardt außerdem beschlossen, die Schule barrierefrei zu gestalten und Aufzüge einzubauen. Ein Schritt, der dem Gemeinderat überfällig schien – auch mit Blick auf mögliche andere betroffene Schüler.
Bis vor rund anderthalb Jahren, also vor ihrem letzten Sturz, war Lilias Erkrankung für Außenstehende noch nicht so offensichtlich, sagt ihre Mutter. Die Familie wurde mit der Diagnose konfrontiert, als Lilia etwa zweieinhalb Jahre alt war. Ein vergleichsweise leichter Vorfall hatte für sie schmerzhafte Folgen. „Sie ist eigentlich nur an einer Bank abgerutscht.“ Als sie zum Arzt gingen, folgten eine Röntgenuntersuchung und nach einer genetischen Abklärung schließlich die Gewissheit, dass Lilia Glasknochen hat. „Aufgrund der vielen Brüche hatten wir schon den Verdacht“, sagt Jan Perne. Mittlerweile hat die Zehnjährige eine erste medikamentöse Behandlung erhalten, die zweimal im Jahr erfolgen soll. „Das ist eine Infusion. Bei der Gabe von Bisphosphonaten muss man Risiko und Nutzen abwägen“, sagt Renate Perne, die zwölf Jahre als Kinderkrankenschwester gearbeitet hat. Nebenwirkungen können eine Rolle spielen, aber Lilia hatte nur ein wenig Fieber. Viel schlimmer fand sie, dass ihr eine Infusion gelegt, sprich eine Nadel tiefer in die Haut gestochen werden sollte. Eine Portion Lachgas hat die Lage dann entspannt. „Wir sind bei einem Arzt in Köln, der selbst betroffen ist“, so Renate Perne.
Lilia diskutiert gern
und liebt den Umgang mit Tieren
Mittlerweile ist wieder ein Stück Alltag eingekehrt und für den wünscht sich die kleine Madam, dass ihre Mutter „mal in Ruhe einen Film“ mit ihr schauen kann. „Das kommt vielleicht einmal in 500 Jahren vor“, meint sie, natürlich nicht ganz ernst. Es lässt sich gut vorstellen, dass einfach immer viel zu tun ist. Und was macht Lilia in der Schule besonders gern? „Ethik“, sagt sie und dass sie gerne diskutiert. Die letzten Themen waren Freundschaft und die Unterschiede zwischen Mensch und Roboter. Renate Perne nickt. „Seit sie sprechen konnte, war sie knallhart mit Argumenten.“ Außerdem hat Lilia schon eine Idee, was die berufliche Zukunft angeht. „Ich möchte gerne was mit Tieren machen“, erklärt sie. Wer ihr Lächeln auf dem Foto sieht, als sie ein kleines Huhn bei einem spontanen Besuch in Käsbach auf dem Schoß hat, kann das sicher gut nachvollziehen. Außerdem ist da noch Familienkater Topi, der vielleicht auch gern ein Empfehlungsschreiben ausstellen würde, wenn er könnte.

© Stefan Bossow
Die Treppen im Gymnasium geht Lilia – hier mit ihrer Freundin Erina, die auch in der 5a ist, – nicht so gerne, ist dann auch nur in Begleitung unterwegs. Foto: Stefan Bossow