Großes Gremium, große Herausforderungen
Der europapolitische Bildungsreferent Axel Müller erklärt im Vortrag zur Europawahl an der Volkshochschule Murrhardt die Bedeutung des Europäischen Parlaments mit über 700 Abgeordneten, bilanziert die Politik der Europäischen Union seit 2019 und umreißt künftige Schwerpunkte.
Von Elisabeth Klaper
Murrhardt. Bei der Europawahl am Sonntag, 9. Juni, kann jede Bürgerin und jeder Bürger in nationalen Wahlen der 27 EU-Mitgliedsstaaten je eine Stimme an Kandidaten abgeben, die deren Interessen als Abgeordnete im Europäischen Parlament vertreten, erklärte Axel Müller vom Europa-Zentrum Baden-Württemberg. Im Gepäck hatte er einen kurzweilig-informativen Vortrag mit der Überschrift „Europa gestern – heute – morgen. Was ist von der Europawahl zu erwarten?“, der im Zimmertheater des Grabenschulhauses stattfand.
Bei der Kooperationsveranstaltung der Volkshochschule Murrhardt mit dem Europa-Zentrum Baden-Württemberg und dem Kreisverband der Europa-Union informierte der europapolitische Bildungsreferent über das Europäische Parlament mit aktuell 705 Abgeordneten, zu denen nun 15 hinzukommen. Die Wahlen laufen nach nationalem Wahlrecht mit oder ohne Sperrklausel (bestimmte Prozenthürde) ab. In Deutschland, Belgien, Malta und Österreich dürfen Jugendliche ab 16 Jahren wählen, in Griechenland ab 17, sonst ab 18. Deutschland hat mit 96 Sitzen die meisten von allen Ländern, wobei ein Sitz etwa einem Prozent der Wählerstimmen entspricht.
Zurzeit gibt es sieben Fraktionen: die Linken (38 Abgeordnete), die Sozialisten und Demokraten (144), die Grünen/Freie Europäische Allianz (71), die Liberalen in „Renew Europe – Europa erneuern“ (102), die EVP (Europäische Volkspartei) der christlich-demokratischen und bürgerlich-konservativen Parteien (176), die ECR (Europäische Konservative und Reformisten; 64) sowie die Identität und Demokratie, Sammelbecken für die antieuropäischen Rechtspopulisten (64). Hinzu kommen derzeit 46 fraktionslose Abgeordnete.
Nach neuesten Prognosen werden die Linken etwa stabil bleiben, die Grünen, Sozialdemokraten und Liberalen verlieren, die Christdemokraten und Rechtsparteien gewinnen. Aber: „Bei der Europawahl kann man seine Stimme auch einer der kleinen Parteien geben“, da sie ohne Sperrklausel Chancen haben, zumindest einen Sitz zu bekommen, und die Person, deren Namen an der Spitze der Liste steht, ist in der besten Position. „Es wird spannend, wo sich kleine und neue Parteien einsortieren“, so Müller.
Direkt nach der Wahl bilden sich die Fraktionen, Mitte Juli folgt die konstituierende Sitzung des zehnten Europäischen Parlaments mit Wahl des Parlamentspräsidenten. Mitte September wird der Kommissionspräsident gewählt, anschließend wird die Europäische Kommission gebildet und im Dezember wählt das Parlament die Kommissare. „Die Topjobs in der EU müssen parteipolitisch, geografisch und geschlechtlich ausbalanciert sein.“ Der Referent vermutet, dass Ursula von der Leyen wohl Kommissionspräsidentin und Roberta Metsola Parlamentspräsidentin bleiben, bei den weiteren hohen Ämtern stehen aber Veränderungen an, auch haben sich dafür bereits Kandidatinnen und Kandidaten positioniert.
Zur EU-Politik seit der vorherigen Europawahl 2019 zog Müller eine überwiegend positive Bilanz. Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen habe als „Stimme Europas“ viel in die Wege geleitet und einiges erreicht. So das Großprojekt „Green Deal – Grünes Handlungskonzept“ zum Klimawandel, um Europa klimaneutral zu gestalten. Im Bereich Digitalisierung gab
es ein Gesetz zur künstlichen Intelligenz:
Es erlaubt das Texterstellungsprogramm ChatGPT, verbietet aber Gesichtserkennungssoftware.
In der Wirtschaftspolitik schloss die EU Freihandelsabkommen mit Drittstaaten ab, so mit Großbritannien nach dem Brexit sowie lateinamerikanischen Ländern. Indes scheiterte die werte- und klimaschutzbasierte „Globale Initiative für Handelswege“ mit afrikanischen Ländern, gedacht als Gegenstück zu Chinas „Neuer Seidenstraße“. Bei der europäischen Zukunftskonferenz machten Bürgerinnen und Bürger konkrete Vorschläge für effektivere Entscheidungsprozesse wie die Abschaffung des Einstimmigkeitsprinzips in der EU-Kommission. Auch einigten sich die Mitglieder auf den Pakt zu Migration und Asyl, der jedoch noch nicht umgesetzt und nur für Flüchtlinge gültig ist.
Der Vollzug des Brexit 2020 hatte ob der negativen Auswirkungen auf Großbritannien „abschreckende Wirkung“ auf andere Staaten, die einen EU-Austritt erwogen. „Gesundheitspolitik ist kein EU-Thema“, doch gelang es in der Coronapandemie nach anfänglichem Versagen mit innovativen Pharmafirmen und der Europäischen Medizinagentur schnell Impfstoffe zu entwickeln und europaweit verfügbar zu machen. Zur Finanzierung nahm die EU erstmals gemeinsam Schulden mit dem Konjunkturpaket Europäischer Wiederaufbaufonds auf.
Nach Beginn des Ukrainekriegs koordinierte die EU Waffenlieferungen für die Ukraine und Sanktionen gegen Russland, vergrößerte die Zahl der Energielieferanten und die Europäische Zentralbank bekämpfte die Inflation durch Zinserhöhungen. Im Gazakrieg Israels gegen die Hamas ist die EU jedoch uneins: Viele Länder stehen auf palästinensischer Seite, Deutschland und Österreich auf israelischer. Wichtige Zukunftsthemen der als schwerfällig und zu bürokratisch empfundenen EU sind deren notwendige Reform, eine eigene Verteidigung sowie effiziente Maßnahmen in puncto Klimawandel, Migration und Rechtsextremismus. „Wählen Sie, was Sie wollen, aber wählen Sie für Europa“, riet Axel Müller abschließend.