Zum Tod von Peter Bichsel
Großmeister der kleinen Form
Das weltverrückende Potenzial betörender Kurzprosa war sein Markenzeichen. Wenige Tage vor seinem 90. Geburtstag ist der Schweizer Schriftsteller Peter Bichsel gestorben.

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Überzeugter Pessimist und beglückender Sprachspieler: Peter Bichsel
Von Stefan Kister
Mit der Geschichte „Eigentlich möchte Frau Blum den Milchmann kennenlernen“ von 1964 fing es an. Was für eine Geschichte? Der Titel umschreibt die Handlung eigentlich erschöpfend, aber wenn man genauer hinsieht, findet man so viele bezeichnende Geringfügigkeiten, dass diese vielleicht lakonischste Liebesverhinderungserzählung der Weltliteratur seither durch unzählige Schulbücher weitergereicht wurde.
Ein Großteil der Welt Peter Bichsels ruht auf Säulen aus Buchstaben: Kolumnen, die er über die Jahre für verschiedene Zeitungen verfasst hat. Anders als Säulen freilich sind sie nicht den Gesetzen der Statik unterworfen. Im Gegenteil: alles, auf das sich sonst feste Gewissheit gründet, gerät hier binnen Kurzem in kurioses Schwanken. In seinem letzten Kolumnenband „Über das Wetter reden“ beschreibt Peter Bichsel, wie er nachts bisweilen schweißgebadet erwacht, wenn ihm einfällt, dass vielleicht eben in Japan ein paar Deutschstudentinnen mit einem Text von ihm gequält werden könnten.
Anmut der Natürlichkeit
Doch auch wenn der am 24. März 1935 in Luzern geborene Großmeister der kleinen Form viele Jahre als Lehrer einschlägige Einsichten über die Höhen und Tiefen der Wissensvermittlung sammeln konnte, sind seine Texte nicht Gegenstände der Qual, sondern höchster sprachlicher Lust. Auch gerade dann, wenn sie von pädagogischen Irrfahrten erzählen, wie jener, in der ein französischer Kolonialbeamter in der afrikanischen Savanne unzählige Menschen in einer nichtexistenten Sprache unterrichtet, die er irrtümlicher Weise für Deutsch hielt.
Das weltverrückende Potenzial der kleinen Formen, die zu Bichsels Markenzeichen wurden, hatte der Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki schon früh erkannt. Er schreibe Geschichten, in denen nichts oder fast nichts geschehe. Was ihn überzeugte, war ihre „Anmut der Natürlichkeit“. Die frühe Erkenntnis einer Schreibberufung klingt bei Bichsel selbst etwas anders: Dichtung sei der letzte Berufsstand, der Dilettantismus geradezu voraussetze. Schon als Achtjährigem seien ihm seine Geschichten misslungen, daran habe sich nichts geändert. Aus der produktiven Spannung dieses angeblichen Nichtkönnens ist jedoch ein wundersames Prosalabyrinth entstanden, aus einfachsten Sätzen gebaut, aber von einer Fülle alltagspoetischer Verwinkelungen, sodass ein roter Faden nicht weiterhilft.
In wenigen Tagen wäre Peter Bichsel neunzig geworden. Aus diesem Anlass hat sein Hausverlag Suhrkamp noch einmal die erweiterte Neuausgabe des initialen Kurzprosa-Bändchens herausgebracht: „Eigentlich möchte Frau Blum den Milchmann kennenlernen“. Doch am Samstag ist der Großmeister der kleinen Form in Solothurn gestorben. Er hinterlässt einen Roman und über zwanzig Erzähl- und Kolumnenbände. Und es ist nie zu spät, ihn kennenzulernen.
„Ich bin ein überzeugter Pessimist,“ sagte Bichsel einmal in einem Interview. „Ich sehe nicht den geringsten Anlass für Optimismus in unserer Welt, weil die Optimisten immer daran waren, diese Welt zu zerstören. Es gab keinen einzigen pessimistischen Diktator auf der Welt.“ Man ist geneigt, diese Überzeugung zu teilen. Doch eines hat man von Peter Bichsel eben auch gelernt: das Ende bleibt immer offen.