Die Staatsgalerie Stuttgart präsentiert Katharina Grosse
Im Kunstgebäude Stuttgart macht Katharina Grosse den Raum zum Bild
In Freiburg 1961 geboren, zählt Katharina Grosse zu den internationalen Kunststars ihrer Generation. In Stuttgart verwandelt sie das Kunstgebäude am Schlossplatz in ein begehbares Bild.

© Katharina Grosse/Firstbauer
„The Sprayed Dear“ heißt Katharina Grosses zentrale, für den Kuppelsaal des Kunstgebäudes am Schlossplatz entstandene Arbeit.
Von Nikolai B. Forstbauer
Was für ein Versprechen! Katharina Grosse im sanierten Altbau des Kunstgebäudes Stuttgart. Eine Künstlerin, die sich Räume aneignet, sie mit Malerei durchdringt. Werden Kunstgebäude-Mythen von „Vergangenheit – Gegenwart -Zukunft“ bis hin zu „General Idea“ aufgerufen? Dazu fehlt ein für die internationale Gegenwartskunst im Kunstgebäude immer bestimmender Raum: der Vierecksaal. Auf diesen konzentriert sich der Württembergische Kunstverein Stuttgart – und führt von dort aus weiter und erfolgreich die Debatte um die Gültigkeit von Gegenwartskunst und die Gültigkeit von Gegenwart und Kunst.
Saniert und umgebaut, um unterschiedlichste Veranstaltungen des Landes aufzunehmen, ist der Kunstgebäude-Altbau nun auserkoren, Bühne der Kunst zu sein – als zweite große Spielstätte der Staatsgalerie Stuttgart. Eine Chance fraglos, bis zur anstehenden Sanierung des Stirlingbaus und dem angekündigten Teilumzug der Sammlung im Kunstgebäude etwas zu wagen, Setzungen und Gegenreden zu entwickeln, die inmitten des eingeübten Sammlungsprofils der Staatsgalerie vielleicht nicht möglich wären.
Was aber ist wirklich möglich im Kunstgebäude? Wer, wenn nicht die 1961 in Freiburg geborene Katharina Grosse, könnte dies erkunden – mit dem finanziellen Rückenwind einer Großen Landesausstellung zudem? Eine Künstlerin, über deren Anverwandlung der zentralen Halle im Berliner Museum Hamburger Bahnhof man auch fünf Jahre nach der Ausstellung „It Wasn’t Us“ zurecht immer noch staunt. Wie also reagiert Katharina Grosse auf das Kunstgebäude am Schlossplatz? Zunächst mit einem Wortspiel, das Bilder hervorruft, Dialoge eröffnet. „The Sprayed Dear“ ist ihre Annäherung betitelt – und macht lächelnd den „deer“, den weithin sichtbaren Hirsch auf der zentralen Kuppel, zu „dear“, zu etwas Liebgewonnenem. Hat Katharina Grosse so eine Hommage an ein architektonisches Wahrzeichen Stuttgarts entwickelt? Einen Aufruf, das Kunstgebäude als Herz eines mit hochkarätigen Kultureinrichtungen gespickten Kulturquartiers ernst und wahr zu nehmen?
Eher schon deutet sich ein neuer Klang im Werk an. Nicht die Überwältigung, das ganz Andere, sondern ein Tänzeln im Raum, besser: mit dem Raum. Hendrik Bündge, der „The Sprayed Dear“ in Abstimmung mit dem Studio Grosse für die Staatsgalerie Stuttgart erarbeitet hat (unterstützt von Linda Marie Kirschey), geht diesen Ansatz schon im ersten Raum mit. Keine Überwältigung, nirgends. Ein bemaltes Ei in der Raummitte, ein zurückhaltendes Farbrund hoch in einer Ecke, platziert fast wie eine Überwachungskamera. Es ist, als sollten wir Besucherinnen und Besucher Atem holen können vor der eigentlichen Begegnung.
Und dann? Versperrt ein vielfach verschränkter, kühl weißer Skulpturenkörper den weiteren Durchgang. „Ghost“ macht die beiden Kabinette vor dem Kuppelsaal zu einer eigenwertigen Halle und die Begegnung zu einer Ausstellung in der Ausstellung. Skulptur? Raum? Bild? Eine Parabel auf die Zerscherbung der Welt? Am ehesten ist „Ghost“ die Kunst gewordene Antwort auf Katharina Grosses Satz: „Meine persönliche Motivation ist es, immer neue Formen dafür zu finden, was ein gemaltes Bild für uns sein kann und wie es im gesellschaftlichen Kontext wirken kann.“
Der Eintritt in den 26 Meter hohen Kuppelsaal lässt an einen anderen Satz Grosses denken – „mich interessieren die paradoxen Erfahrungen, die mir die jeweiligen Orte bieten“. Als ob eine imaginäre Innenhaut des Raumzylinders abgelöst und mehrfach zerschnitten worden wäre, durchwandern wir mit der titelgebenden Arbeit „The Sprayed Dear“ eine typische Grosse-Landschaft – mit bereits wieder lockenden Farbverläufen im nächsten Raum. Wie der russische Jugendbuchautor Juri Korinetz seine Protagonisten in „Dort, weit hinter dem Fluss“ durch „Feuer, Wasser und kupferne Rohre“ schickt, eröffnet „The Sprayed Dear“ in all seinen Bereichen unterschiedliche Realitäten.
Scheint Grosse in den nächsten beiden Räumen deren Eigenwertigkeit durch behutsame Anmerkungen eher Flankenschutz zu geben, wird die dritte für das Kunstgebäude entwickelte Werk zur eigentlichen Entdeckung dieser Ausstellung. „Ein Bild“, sagt Grosse, „kann überall auftauchen, sei es auf einem Ei, in der Armbeuge, in Schnee und Eis oder am Strand“. Hier nun, im einstigen Verteilerraum hinauf zu den vormaligen Sammlungsräumen der Galerie der Stadt Stuttgart, taucht das Bild als vielfach geschnittene, gerollte, gewölbte, miteinander verschlungene grundierte Leinwand auf. Kunst über Kunst mit gleicher Achtung vor europäischer Arte Povera und US-amerikanischer Concept Art – und doch zuvorderst eine kongeniale Antwort auf die durch die bodenhohe Fensterfläche zum Park hin spürbare Doppelbödigkeit von Innen und Außen.
Woher aber kommt die Souveränität der eigens für das Kunstgebäude entwickelten Arbeiten „Ghost“, „The Sprayed Dear“ und „Untitled“? Hendrik Bündge nimmt einen auf abschließend präsentierte skulpturale Farbkörper zielenden zweiten Anlauf, geht weit zurück zu Grosses Experimenten mit Kunststoffabgüssen und unterschiedlichsten Material- und Farbanalysen. Das ist spektakulär unspektakulär, zeigt jedoch auf feine leise Weise die sich bei Grosse früh verbindenden Gedankenströme einer bildforschenden Abstraktion und einer fast lyrischen Strukturen folgenden, jeweils zu eigenem Ganzen findenden Materialuntersuchung. So ist „The Sprayed Dear“, ist diese Ausstellung auf ein Wiederkommen angelegt, auf eine zweite Annäherung. An das Schaffen von Katharina Grosse wie auch an den Ort dieser Großen Landesausstellung.
Katharina Grosse: The Sprayed Dear. Kunstgebäude Stuttgart. Bis 11. Januar 2026. Di – So 10 – 17 Uhr, Do 10 – 20 Uhr. Eintritt 11,50 Euro (ermäßigt 9,50 Euro) inklusive Sammlung. Der Katalog wird am 22. Juni vorgestellt.

© Woman Art House/Woman Art House
Katharina Grosse ist als Künstlerin weltweit gefragt

© Katharina Grosse/Forstbauer
In Stuttgart beginnt ihre Schau „The Sprayed Dear“ im Kunstgebäude am Schlossplatz mit einem bemalten Ei

© Katharina Grosse/Forstbauer
Eigens für das Kunstgebäude erarbeitete „Sperre“ aus Styropor: Katharina Grosses „Ghost“ ...

© Katharina Grosse/Forstbauer
... zeigt sich als Skulpturenlandschaft

© Katharina Grosse/Forstbauer
Der Kuppelsaal wird insgesamt zum Bild, ...

© Katharina Grosse/Forstbauer
... zum titelgebenden Werk „The Sprayed Dear“

© Katharina Grosse/Forstbauer
Ob scheinbar in der Fläche ...

© Katharina Grosse/Forstbauer
.. oder klar dreidimensional – immer geht es Katharina Grosse um die Malerei.

© Katharina Grosse/Forstbauer
Grundierte Leinwände formen sich zu „Untitled“