Autobauer setzt auf Tradition
Im Wettlauf um autonomes Fahren gilt für Mercedes „Sicherheit vor Tempo“
Der Stuttgarter Autobauer Mercedes-Benz präsentiert in Shanghai neue Technologien. Er will sich gegenüber der chinesischen Konkurrenz durch seine tief verankerte Sicherheitskultur abgrenzen. Kurbelt das den Absatz an?

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Andrang in Shanghai: Mercedes-Chef Ola Källenius präsentiert das Luxusauto „Vision V“
Von Klaus Köster
Wer als Fußgänger im Zentrum von Shanghai eine Straße überqueren will, braucht gute Nerven. Aus allen Himmelsrichtungen queren Scharen von E-Rollern den Weg und schlängeln sich mit flottem Tempo zwischen den Menschen hindurch. Vor Autos haben die E-Roller-Fahrer zwar mehr Respekt als vor Fußgängern, doch um sich in diesem Verkehrsgewusel zu behaupten, brauchen auch Autofahrer Umsicht und gute Nerven.
Für die Bemühungen von Ingenieuren, Autos das autonome Fahren beizubringen, ist Shanghai wohl eine der größten Herausforderungen, die man sich vorstellen kann. Dennoch wagt sich nun Mercedes daran, dort als erster nichtchinesischer Hersteller ein System anzubieten, bei dem der Fahrer auch in städtischen Gebieten nur noch das Ziel ins Navigationssystem eingeben muss und ansonsten dem Auto vertrauen soll. Die Hände muss er allerdings – noch – am Steuer lassen, um jederzeit eingreifen zu können.
Bei einer Testfahrt in Shanghai bewegt sich das Auto flüssig durch das Gewusel, findet beim Linksabbiegen eine Lücke im Pulk der entgegenkommenden Roller und erkennt frühzeitig Radfahrer und einen verirrten Mopedfahrer, der überraschend seine Fahrbahn kreuzt. Bei der 30-minütigen Fahrt muss der Fahrer, der für die autonomen Systeme verantwortliche Manager Martin Hart, kein einziges Mal eingreifen.
Autonome Systeme werden zum Standard
In China werden solche Funktionen allerdings schon jetzt zunehmend zum Standard. Rechtzeitig vor der weltgrößten Automesse, der Auto Shanghai, die an diesem Freitag für das Publikum ihre Türen öffnet, hatte der führende chinesische Autohersteller BYD eine Ankündigung verbreitet, die die Branche aufschreckte. Ein hochgradig autonomes System mit dem Namen „Auge Gottes“ wird es nun serienmäßig in allen Preisklassen geben, von der Luxusmarke Yangwang bis zu den kleinen Fahrzeugen der Marke Seagull, die dort für unter 10 000 Euro angeboten werden.
Mit einem derart harten Preiskampf tun sich etablierte Hersteller schwer, und deshalb setzt Mercedes bei den Auftritten seiner Top-Führungskräfte auf dem riesigen Messestand einen Kontrapunkt. Intensiv wie nie betont es seine lange Tradition, seine Erfahrung und das tief in der Identität des Unternehmens verwurzelte Sicherheitsbewusstsein.
Mercedes: „Die einfachste Lösung ist keine Option“
Wir mögen zwar nicht immer die ersten sein – aber wenn wir etwas auf den Markt bringen, ist es ausgereift und durchgetestet, lautet die Botschaft – ob es ums autonome Fahren geht, um die 180 realen Crash-Tests, die der Mercedes CLA vor seiner Markteinführung absolvierte, oder um die aufwendige Technologie, um bei einem Unfall oder einem technischen Defekt einen Brand der E-Batterie zu verhindern. „Die einfachste Lösung ist nie eine Option, um den Ansprüchen eines Mercedes zu entsprechen“, sagt Drummond Jacoy, Mercedes-Forschungschef in China. Es gilt das Prinzip „Sicherheit vor Tempo“.
Doch was ist, wenn Hersteller in anderen Ländern hohe Qualität zu viel niedrigeren Kosten erreichen? Wie eine Bestätigung für Mercedes wirkt in dieser Lage ein tragisches Ereignis, über das kaum gesprochen wird und das doch wie ein rosa Elefant im Raum steht. Vor drei Wochen raste ein Auto des hippen Elektronikkonzerns Xiaomi mit aktiviertem Autopiloten in eine Baustelle – drei junge Frauen verbrannten. Womöglich hatte sich die Fahrerin zu wenig auf das Fahren konzentriert. Das Ereignis sorgte für viel Aufsehen und brachte die Regierung dazu, umgehend jegliche Werbeaussagen zu verbieten, die suggerieren, dass der Fahrer nicht mehr fahren muss.
Sensibilität in China wächst – hilft das Mercedes?
Mercedes-Chef Ola Källenius will aus diesem Unglück kein Kapital schlagen und sagt zu den Konsequenzen aus dem Unfall nur, dass Mercedes schon bisher mit seinen Standards weit über die Vorschriften hinausgehe und deshalb von der Verschärfung nicht betroffen sei. Die gewachsene Sensibilität in Politik und Öffentlichkeit für Sicherheitsprobleme moderner Technologien könnte dazu führen, dass das Traditionsbewusstsein, das Mercedes in den Vordergrund stellt, nicht angestaubt wirkt, sondern zeitgemäß.
In Shanghai setzte das Unternehmen seine angekündigte Modelloffensive mit zwei neuen Fahrzeugen fort – mit einer in und für China gebauten Langversion des Kompaktwagens CLA und dem „Vision V“, einer luxuriös ausgestatteten Chauffeurslimousine, die hinter der durch Glas abgetrennten Fahrerkabine reichlich Platz für ein stylisch eingerichtetes mobiles Wohnzimmer bietet, zu dem eine Bar und ein riesiger Bildschirm ebenso gehören wie Sitze, die sich auf Knopfdruck in Betten umwandeln lassen.
Sind Top-Fahrzeuge künftig billig zu haben?
Hier die Tradition und Solidität des 140 Jahre alten Autoherstellers, dort die Agilität und Erneuerungsgeschwindigkeit der Newcomer – eine entscheidende Frage wird sein, ob es den Chinesen gelingt, Top-Fahrzeuge so billig anzubieten, dass sie deutschen Premiumherstellern das Wasser abgraben.
Ein Coup ist in dieser Hinsicht Xiaomi mit dem SU7 gelungen, der dem Porsche Taycan täuschend ähnlich sieht, ihm bei einigen Fahreigenschaften sogar überlegen ist – und gerade mal ein Viertel des Vorbilds aus Zuffenhausen kostet. Genau mit diesem Modell ist nun allerdings der Unfall passiert, der die Frage nach der Verantwortung der Hersteller für ihre Technologien neu aufwirft.
Noch findet der Wettbewerb mit chinesischen Herstellern fast nur in China statt; doch in Australien, Südamerika und Südostasien beginnen die Marktanteile der Wettbewerber aus Fernost bereits zu steigen. Werden sie auch in Europa den Durchbruch schaffen?
Mercedes-Chef: „Deutsche haben sich gut behauptet“
Källenius jedenfalls ist nicht bange. Die deutschen Hersteller hätten sich über die Jahrzehnte angesichts der immer wieder neuen Konkurrenz aus Japan, aus Südkorea, durch Tesla „alles in allem bemerkenswert gut behauptet“, sagt er. Für Überheblichkeit gegenüber anderen gebe es zwar keinen Anlass. Für große Selbstzweifel allerdings auch nicht. „Wir können das.“
Hinweis: Unser Reporter besucht die Automesse in Shanghai auf Einladung von Mercedes-Benz.

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Nach den Präsentationen erobern Influencerinnen die Bühne, hier beim Mercedes Vision V. Ihre Kanäle in sozialen Medien haben oft enorme Reichweiten.

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Vorne gibt es Handys, hinten Autos: In Shanghais zentraler Nanjing Road betreibt Huawei einen Flagship Store.