Im Zweifel für die Freiheit
Der Gefangenenaustausch mit Russland wirft heikle moralische Fragen auf.
Von Norbert Wallet
Berlin - Ist der Westen, ist Deutschland mit der Vereinbarung eines Gefangenenaustausches gegenüber Putins Russland zu weit gegangen? Hatte die Bundesregierung, um es auf die deutsche Sicht herunterzubrechen, das moralische Recht, einen verurteilten Auftragsmörder und Agenten freizulassen? Ist das wirklich dadurch gerechtfertigt, dass im Gegenzug insgesamt 16 Menschen aus den Fängen der Diktatoren Putin und Lukaschenko befreit werden können?
Natürlich stechen starke Argumente ins Auge, die einem solchen Handel entgegenstehen. Die freie Welt verschafft dadurch zweifellos dem russischen Despoten einen erheblichen Prestige-Erfolg. Die Bilder, wie Wladimir Putin auf dem Moskauer Flughafen seine freien Gesinnungsfreunde und Helfershelfer begrüßt und sich als Machtfaktor geriert, der selbst von den USA als harter Verhandlungspartner ernst genommen wird, sind schmerzlich.
Und genau so natürlich stellt sich die Frage danach, ob sich der Westen durch solche Aktionen nicht erpressbar macht. In Deutschland erinnern sich manche an die harte und damals von der überwiegenden Mehrheit der Gesellschaft geteilten Haltung des Bundeskanzlers Helmut Schmidt (SPD), der den Austausch von RAF-Gefangenen gegen Geiseln strikt abgelehnt hatte.
Muss also künftig Putin nur genug westliche Staatsbürger inhaftieren, um in Washington und Berlin jedwede Art von Zugeständnissen erpressen zu können? Die Frage muss man zumindest stellen dürfen. Allerdings sollte im konkreten Fall mitbedacht werde, dass der Westen durch handfeste falsche politische Entscheidungen, nicht durch humanitäre Gesten, viel zu lange ökonomisch erpressbar, mindestens aber stark abhängig gewesen war.
Wer dennoch findet, dass dieser Austausch letztlich verantwortbar ist, tut das nicht aus einer falschen Hoffnung heraus, die besagt, der Deal zeige, dass Wladimir Putin eben doch verhandlungsbereit und -fähig sei und sich somit auch im Ukraine-Konflikt neue Türen öffnen könnten. Das zeigt die Vereinbarung leider überhaupt nicht. Es wäre töricht zu glauben, der Austausch sei sozusagen eine politische Vorauszahlung, die weiteren diplomatischen Lösungen den Boden bereite.
Die tatsächlich ausschlaggebende Ratio ist viel nüchterner: US-Präsident Joe Biden und Bundeskanzler Olaf Scholz stehen gleichermaßen in der selbstverständlichen Verpflichtung, Schaden von ihrem Volk abzuwenden und ihm Gutes angedeihen zu lassen. Die politische Situation bot ihnen die Möglichkeit, in schwerer Not befindlichen Staatsbürgern Hilfe zukommen zu lassen. Der Handel mit Putin befreite Menschen von den Straflagern, in denen zuletzt Alexej Nawalny umgekommen war. Diesen Schaden haben die Politiker von einigen bedrohten Staatsbürgern abwenden können. Und sie konnten darüber hinaus die Verhandlungssituation nutzen, um einer Reihe russischer Oppositioneller den Weg in die Freiheit zu bahnen. Nach allem, was zu hören ist, konnte die deutsche Seite hier wichtige Akzente setzen.
Das alles geschah, ohne nationales Recht zu beugen. Der Paragraf 456a der Strafprozessordnung ermöglicht bei einer Ausweisung das Absehen von der Strafvollstreckung. Joe Biden und Olaf Scholz hatten heikle moralische Fragen zu klären.
Ob sie richtig oder falsch gehandelt haben, darüber sollte man mit leiser Stimme sprechen. In der konkreten Situation haben sich die beiden dafür entschieden, Menschen in Not zu helfen und gaben dieser Hilfe den Vorrang vor abstrakten – wenngleich wichtigen – Prinzipien. Sie haben im Zweifel für die Freiheit entschieden. Wer wollte das ernsthaft tadeln?