Immer für einen Perspektivwechsel bereit

Die Kunsthistorikerinnen Carolin Wurzbacher und Eva-Marina Froitzheim tauschen sich in der Kunstsammlung Murrhardt anlässlich der Ausstellung zu Reinhold Nägeles grafischem Werk über den Murrhardter Maler, seine besonderen künstlerischen Qualitäten und sein Leben aus.

Carolin Wurzbacher, Kuratorin der Ausstellung, und Eva-Marina Froitzheim (von rechts) beleuchten in ihrem Gespräch in der Kunstsammlung Nägeles Schaffen und dessen Rezeption. Foto: Stefan Bossow

© Stefan Bossow

Carolin Wurzbacher, Kuratorin der Ausstellung, und Eva-Marina Froitzheim (von rechts) beleuchten in ihrem Gespräch in der Kunstsammlung Nägeles Schaffen und dessen Rezeption. Foto: Stefan Bossow

Von Petra Neumann

Murrhardt. Im Rahmen der Ausstellung über das grafische Werk von Reinhold Nägele (1884 bis 1972) stand nun ein Werkstattgespräch mit Eva-Marina Froitzheim, der Kuratorin des Kunstmuseums Stuttgart, und Carolin Wurzbacher, Kuratorin der Ausstellung in Murrhardt, auf dem Programm. Die beiden Kunsthistorikerinnen folgten in ihrer Erörterung, die unter dem Motto „Von Murrhardt in die Welt“ stand, den wichtigen Lebensstationen des Künstlers. „Vor allem das druckgrafische Werk hat wesentlich zur Verbreitung des Renommees Reinhold Nägeles beigetragen“, unterstrich Carolin Wurzbacher, wobei im Verlauf des Dialogs klar wurde, dass der junge Kunstautodidakt diese Technik von seinem Freund Jakob Wilhelm Fehrle (1884 bis 1974) in München lernte.

Eva-Marina Froitzheim kam mit dem Werk Nägeles im Lauf ihres Berufslebens in Kontakt und betonte, wie sehr sie die Tiefe, Menschenkenntnis und exakte Beobachtungsgabe in seinen Grafiken und Bildern schätzen lernte. „Reinhold Nägele muss aus der Ecke des Schwäbisch-Skurrilen herausgeholt werden, denn er war ein sehr aufgeschlossener und politisch orientierter Mensch. Auch ist sein Werk heute noch erstaunlich frisch.“ Sie sieht eine sehr enge Verbindung zur Literatur, insbesondere von Robert Walser (1878 bis 1956), mit dessen Bruder Karl (1877 bis 1943) Reinhold Nägele befreundet war, unter anderem auch deswegen, weil beide eine Ausbildung als Dekorationsmaler absolviert hatten. Und sie ist der Ansicht, dass dieser letztlich für den jungen Mann eine Leitbildfunktion hatte.

Es wird wohl diese unbegrenzte Welt der Literatur gewesen sein, die zusammen mit Aufenthalten in Berlin, München, Paris, Breslau und später New York Reinhold Nägele die Vielfalt der menschlichen Existenz und Kultur vermittelt und sein Verstehen geweitet hat. Über den Kontakt zu Karl Walser wurde der berühmte Kunsthändler Paul Cassirer (1871 bis 1926) auf Nägele aufmerksam und stellte 1907/08 seine Werke sogar neben jenen von Paul Slevogt, Lovis Corinth und Max Liebermann aus, unter anderem die „Schwäbische Hochzeit“. „Interessant ist der Perspektivenwechsel. So finden sich in Nägeles Oeuvre von extremer Nahsicht bis zur Vogelperspektive viele visuelle Standpunkte“, betonte Eva-Marina Froitzheim.

Nägeles zweite Station war München. Dort teilte er sich ein Atelier mit Wilhelm Fehrle, der auch den Ruf eines Don Juans genoss. Es war die Zeit, in der sich Reinhold Nägele sehr mit dem Weiblichen auseinandersetzte, realiter, aber wohl auch mit dem Mythos. „Dabei ist es eine besondere Form der Erotik, die nicht mit Sexualisierung gleichgesetzt werden kann. Es ist schon etwas Besonderes, wie der junge Mann dieses Thema mit Delikatesse behandelte. Dabei ist auffällig, wie er die Aktstudien, die er in seiner kurzen Zeit in Paris anfertigte, in Szene setzte. Sie sind keineswegs voyeuristisch“, unterstrich Eva-Marina Froitzheim. Dennoch vermochte Nägele auch die dunkle Seite des Weiblichen zu erfassen. In seiner ersten Radierung versuchen Frauen mithilfe einer Mistgabel, einen jungen Mann (Nägele) aufzuspießen.

Reinhold Nägele war auch eng mit der Stuttgarter Sezession vernetzt, die sich 1923 vom Württembergischen Kunstverein abgesetzt hatte. Er war dort stellvertretender Leiter und hatte ein gewisses Alleinstellungsmerkmal inne, das ihn auch befähigte, ein Netzwerk an Kontakten zu anderen Künstlern aufzubauen. Anfang der 1920er-Jahre heiratete er die Hautärztin Alice Nördlinger, die jüdische Vorfahren hatte. Aufgrund dessen erhielt er im Dritten Reich ein Arbeitsverbot und emigrierte mit seiner Familie in die USA. Verbissen lernte der nun Mittellose anhand von Romanen die ihm gänzlich fremde Sprache. Auch in der neuen und fremden Heimat behielt er seinen psychologischen Röntgenblick bei. „Mir wurde bei der Durchsicht seines Werks bewusst, dass er das Naziregime von Anfang an durchschaut hat und ein durch und durch politischer Mensch war. Selbst in dieser dunklen Zeit blieben ihm Freunde in Württemberg, sodass er nach dem Tod seine Ehefrau, die 1961 verstarb, wieder nach Murrhardt zurückkehren konnte und dort die letzten Jahre seines Lebens verbrachte“, erläuterte Carolin Wurzbacher. Aus dieser Zeit las der Stuttgarter Bibliothekar Andreas Weber einen Brief Reinhold Nägeles vor, der sehr aussagekräftig dessen Haltung beleuchtete.

Finissage und Buchpräsentation am kommenden Sonntagvormittag

Abschluss Am kommenden Sonntag, 8. Oktober, findet die Finissage zur Ausstellung „Reinhold Nägele – Das grafische Werk“ mit Buchpräsentation und -verkauf in der städtischen Kunstsammlung statt. Das Werkverzeichnis der Druckgrafiken von Reinhold Nägele ist im Auftrag der Stadt Murrhardt in Zusammenarbeit mit der Kunsthistorikerin und Kuratorin der Ausstellung, Carolin Wurzbacher, und in tatkräftiger Unterstützung durch den Nägele-Freundeskreis entstanden. Die Publikation widmet sich erstmals dem gesamten grafischen Werk des Künstlers und gibt einen Überblick zu Nägeles Radierungen, Exlibris und Serigrafien. Die Veranstaltung findet im Heinrich-von-Zügel-Saal in der städtischen Kunstsammlung statt und beginnt um 11 Uhr. Der Eintritt ist frei. Eine Anmeldung ist nicht erforderlich.

Verzeichnis Das Buch kann bei der Veranstaltung gekauft werden. Es kostet 52 Euro. Danach kann der Band ebenso erworben werden – in der Tourist-Info im Naturparkzentrum, Marktplatz 8, oder in der städtischen Kunstsammlung während der Öffnungszeiten (samstags, sonntags und feiertags jeweils von 13 bis 17 Uhr).

Kontakt Weitere Infos gibt es beim Amt für Wirtschaft, Kultur und Tourismus unter Telefon 07192/213-222 oder per E-Mail an kultur@murrhardt.de.

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Erstellt:
5. Oktober 2023, 06:00 Uhr

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