In der ukrainischen Frontstadt Pokrovsk
Kaffee, Tee und Wut auf Trump
Russische Aggressoren greifen seit 230 Tagen die südukrainische Stadt Pokrovsk an. In der umkämpften Bergbaustadt harren vor allem Alte aus. Der Umgang von US-Präsident Trump mit ihrem Präsidenten verärgert sie. Ein Besuch bei Menschen, die sich Frieden in einer freien, selbstbestimmten Ukraine wünschen.

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Mit dem Einkauf für eine Woche bepackt macht sich Tetiana auf dem zehneinhalb Kilometer langen Rückweg aus dem belagerten Pokrovsk ins Dorf Rodynske.
Von Franz Feyder
Der Krieg tobt hinter einem blau-gelben Fahnenmeer. An der Kreuzung nach Kamjanka, einem 700-Seelen-Nest aus dem 17. Jahrhundert in der Ukraine. Russische Leibeigene lebten hier einst; damals wie heute verdienten die Menschen Kamjankas ihren Lebensunterhalt im Kohlebergbau: Hohe Halden, der träge fließende Fluss Byk durchschneidet das Dorf – und unentwegt dringt der Geruch nach verbrennender Kohle in die Nase.
Kamjanka ist wie eine Blaupause für die Region um die Bergbaustadt Pokrovsk. 60 127 Menschen lebten hier im Jahr 2020. Beim Bahnhof mit der braun-beigen Fassade und dem blauen Dach kommen aus allen vier Himmelsrichtungen 15 Eisenbahnstränge zusammen. Von hier aus versorgte die ukrainische Armee bis zum vergangenen Sommer die gesamte Front im Süden. Heute weckt der Knotenpunkt die Begehrlichkeiten der russischen Soldaten, die am 24. Februar 2014 auf Befehl ihres Machthabers Wladimir Putin den Süden der Ukraine überfielen, als gäbe es kein Völkerrecht. Auf den Tag genau acht Jahre später dehnte er den Krieg auf das ganze Land aus. Stieß bis vor die Tore der Hauptstadt Kiew vor, nur um zwei Monate später mit seinen hochgerüsteten Soldaten vor den Verteidigern bis in den Süden der Ukraine zu fliehen.
Seitdem tobt hier ein Stellungskrieg, der nur noch mit dem ersten Weltkrieg zu vergleichen ist: mannshohe Gräben und fußballfeldlange Stacheldrahtverhaue, so weit das Auge reicht. Gekämpft wird um Meter. Nur bei Pokrovsk nicht. Seit 230 Tagen wird am heutigen Mittwoch um die Stadt geblutet und gestorben. 2780 Meter südlich der Stadt haben die ukrainischen Verteidiger die russischen Aggressoren gestoppt – für den Moment.
Zwei Wege führen noch von Kamjanka nach Pokrovsk: Geradeaus geht’s über die Autobahn E 50 an die Front. „Der unsichere Weg“, sagt ein Polizist am Kontrollpunkt. Und dann noch links über die Dörfer. Alle Wege führen zunächst in die Straße „Vulytsya Zaliznychna“: ein Geschäft nach dem nächsten, ein Basar, Cafés, Autowerkstätten – vor sechs Monaten alle geöffnet. Heute brummen hier mit Diesel gefüllte Notstromaggregate rund um die Uhr. Zwei Kaffeebuden und zwei Geschäfte haben noch geöffnet.
Kein fließendes Wasser, kein Strom, Mörser im Garten
Der Tante-Emma-Laden „Vegec“ ist eines: tiefgefrorener Fisch, deutsches Waschpulver, Paketchen Fertigsuppen mit aufgedruckten asiatischen Schriftzeichen. Warmen Kaffee und Tee gibt es dazu, Schwätzchen inklusive. Wie mit Tetiana, einer 79-Jährigen aus dem Dorf Rodynske, die ein- bis zweimal in der Woche zehneinhalb Kilometer zum Laden „Vegec“ läuft, um einzukaufen. Dann wieder zurück. „Was bleibt mir anderes übrig?“, fragt sie schulterzuckend und nippt an ihrem Tee. Wut bricht sich Bahn: „Wir haben doch nichts Unrechtes getan. Unsere Soldaten standen und stehen doch nicht in Russland. Die Russen sind bei uns. Die ermorden uns. Jetzt stehen die Amerikaner auch noch auf Putins Seite. Womit haben wir das verdient?“
Seit Monaten sammeln die Menschen in Pokrovsk Trink- und Waschwasser in ihren Badewannen, schmelzen Schnee, weil es kaum fließend Wasser und Strom gibt. Dafür surren nahezu unentwegt russische Drohnen über der Südstadt. Tetiana zieht den Kopf zwischen die Schultern, als nahebei mit hohem Knall eine Granate einen Mörser verlässt. Die Feuerzüge sind in Gärten versteckt. Dumpf wummern 155-Millimeter-Geschosse französischer Caesar-Kanonen aus weiteren Gärten und Gassen: Die ukrainischen Kanoniere schießen drei, vier Mal, dann kurven sie die Geschützlastwagen in eine neue Stellung, um russischem Beschuss zu entgehen. Der Wind trägt das Rattern von Maschinengewehren in die Stadt. Eine Kolonne olivgrüner Geländewagen rast vorbei, ein Leopard-1A5-Kampfpanzer aus deutscher Produktion folgt. Niemand weiß, wie viele Ukrainerinnen und Ukrainer noch in der Stadt leben.
„Das letzte Bollwerk gegen Putin vor Europa“
Einer, der ausharrt, ist Oleksii. Wie viele Ukrainer will er sich erst nicht fotografieren lassen: „Es gibt auch Menschen, die zwar einen ukrainischen Pass haben, aber Putin im Herzen“, sagt er mit Blick auf die russischen Minderheiten in vielen Städten in den Regierungsbezirken Donezk und Luhansk. Ein Siebtel der Menschen in Pokrovsk zählten 2020 zu diesen Minderheiten. Viele von ihnen seien geblieben, um die russischen Soldaten zu begrüßen. „Sie sind mehr als wir“, sagt Tetiana. Oleksii senkt den Blick, während er fotografiert wird: „Seit Wochen nur Katzenwäsche, da ist man wenig tauglich für Fotos“, sagt er leise.
Die nächste Verteidigungslinie beginnt am Friedhof von Pokrovsk
Deutlich wird er zur aktuellen Weltpolitik, nachdem am Freitagabend ein Treffen zwischen dem ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenkskyj und US-Amtsinhaber Donald Trump in Washington eskalierte: „Selenkskyj hat unserem Land im Weißen Haus Ehre gemacht: Die eigene Welt Trumps und JD Vance‘ sähe vielleicht anders aus, wenn sie einmal zwei Stunden hier wären. Aber diese Erfahrung passt nicht eine Welt, in der bedenkenlos Menschenleben und vor allem Freiheit den Deals geopfert werden. Die Amerikaner scheinen nicht mehr zu verstehen, was Freiheit bedeutet.“
Tetiana klopft Oleksii auf die Schulter. Vadim, Olerksandr und Dmytro nicken. Alle sind über 50 Jahre alt. Alle harren aus und hoffen darauf, dass die ukrainischen Gegenangriffe und Gegenstöße weiter Erfolg haben. Dass die nächste Verteidigungslinie gar nicht erst besetzt werden muss, die Soldaten und Zivilisten seit Wochen bei Temperaturen von minus 15, minus 20 Grad aus dem gefrorenen Boden graben. Sie fängt gleich hinter dem Friedhof von Pokrovsk an.
Fallschirmjäger, die noch nie aus Flugzeugen sprangen
Fallschirmjäger der 25. Luftlandebrigade drängen die Russen am südlichen Stadtrand zurück. Die wenigsten dieser Soldaten sind je aus einem Flugzeug gesprungen. Wenig weiter im Westen von Pokrovsk nimmt das 425. Sturmregiment seit vergangener Woche erfolgreich von der Autobahn E 50 aus mit Leopard-Panzern und Drohnen russische Eliteverbände der 90. Gardepanzerdivision unter Beschuss. Erobert ein Stellungssystem nach dem anderen in blutigen Grabenkämpfen: Feuerstöße mit dem Sturmgewehr um die Ecke des Grabens, Handgranate, ducken, wieder Feuerstöße, ein Fuß vor den anderen setzend schreiten die Soldaten in die nächsten zehn, 15 Meter Schützengraben. Meter für Meter weichen die russischen Angreifer langsam zurück.
Dass die Russen verlieren, das eigene Land in seinen alten Grenzen wieder ganz den Ukrainern gehört, dafür betet 1129 Kilometer entfernt in der Garnisonskirche von Lwiw Elmira: „Wir wurden in unserer eigenen Heimat, zu Hause von Putin überfallen, werden ermordet, verschleppt, gefoltert und vergewaltigt. Das muss ein Ende haben. Wir brauchen Frieden, keine Generationen getöteter Männer und Frauen.“ Umgeben ist sie von hunderten Bildern seit 2014 getöteter ukrainischer Soldatinnen und Soldaten – nur die, die aus dem Großraum Lwiw kommen.
„Dauerhaften Frieden kann es aber nur in einer selbstbestimmten, unabhängigen Ukraine geben“, beschwört sie. „Frieden kann es nicht in einer und für eine Ukraine geben, in der Putin den nächsten Krieg auf den Rest Europas vorbereitet.“

© Franz Feyder
Gedenkstelle für gefallene Kameraden: An der Kreuzung beim Dörfchen Kamjanka haben Soldaten der seit mehr als sieben Monate dauernden Schlacht um Pokrovsk ukrainische Flahnen und die ihrer Verbände aufgestellt. Mit einem Netz schützen sie die Gedenkstelle vor russischen Drohnenangriffen.

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Einer schon immer an dieser Stelle stehenden Marienstatue haben ukrainische Soldaten die Jacke eines toten Kameraden umgehängt. Der Gottesmutter haben sie Rosenkränze um den Hals gehängt.

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Mit Panzersperren sollen die Verteidiger den westlichen Zugang zur Bergbaustadt Pokrovsk im Zuge der Autobahn E 50 schützen. Seit vergangener Woche greifen von hier aus ukrainische Soldaten der mit Kampfpanzer Leoprad 1A5 ausgestatteten 425. Sturmbrigade die russische 90. Panzergardedivison an.

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Die Brücken über die aus allen Himmelsrichtungen in den Einbahnknotenpunkt Pokrovsk führenden Einsenbahnlinien wurden durch russischen Artillerie- und Drohnenbeschuss sowie Bombenabwürfe zerstört,

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In der einst 60.000 Einwohner zählenden Stadt Pokrovsk haben Menschen unweit des Bahnhofs die Gleise mit Schutt und Erde so zugeschüttet, dass sie abseits der zerstörten Brücken die die Stadt teilenden Einsebanhstrecken trotzdem überwinden können.

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Der Tante-Emma-Laden Vegec wirbt mit rot-weißem Ladenschild um Kunden. Es ist eines von zwei noch geöffneten Geschäften im belagerten Pokrovsk. Das Lädchen ist auch zu einem Platz für ein Schwätzchen 3200 Meter nördlich der Front geworden.

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Beiderseitz der Autobahn E 50 haben die ukrainischen Verteidiger in den vergangenen Wochen bei minus 15, minus 20 Grad eine neue, 20 Kilometer tiefe Verteidigungslinie gegraben. Dazu gehören auch mit Drahtseilen verbundene Betonpyramiden, die Panzer stoppen sollen.

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Zwei bis zweieinhalb Meter Panzergräben gehören ebenfalls zu den Verteidigungsanlagen. Auf dem Boden der Gräbern sind Stacheldrahtrollen verlegt. Pionieren haben außerdem Sprengladungen und Minen dort versteckt. Um den Graben zu überwinden müssen Infanteristen zunächst den Wall am linken Bildrand erklimmen. Dann müssen spzielle Pionierpanzer eine Bresche in den Wall schaufeln. Erst dann können Pioniere eine Panzerschnellbrücke über den Graben legen, damit Panzer über die so geschaffene Bresche vorstoßen können.

© Franz FeyderFranz Feyder
Drachenzähne nenne die Ukrainerinnen und Ukrainer die Betonpyramiden. Sie erstrecken sich scheinbar endlos durch das Hinterland von Pokrovsk. Fährt ein Panzer in die Sperre hinein, sollen die Drahtseile die Pyramiden zusammenziehen und um den Panzer wickeln, so dass er schon nach wenigen Metern zu stehen kommt.

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Gedeckt werden die Panzergräben durch ausgedehnte Stellungssysteme mit Bunkern. Links am Bildrand ist zu erkennen, dass die Stellungssysteme für Infanteristen mit Panzerabwehrwaffen durch Stacheldrahtverhaue gedeckt sind. Die Drachenzähne genannten Panzersperren, -gräben und Stellungssysteme erstrecken sich bis zu den Horizonten.

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Der nördliche Ortsausgang Pokrovsk nahe des Friedhofs. Die Verteidiger der Stadt haben die Fahnen ihrer Verbände an die kyrillischen Buchstaben befestigt.

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Auf dem Maidan-Platz in der ukrainischen Hauptstadt Kiew haben Menschen eine Gedenkstätte für die im Kampf gegen die russischen Angreifer gefallenen Sodaten errichtet. Abend sund nachts brennen Kerzen und Weihnachtsbaumketten inmitten der ungezählten ukrainischen Fähnchen. Jedes einzelne symbolisiert einen toten Soldaten.

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Über den Fahnen der Gedenkstätte für tote Soldaten erhebt sich Statue der Berehynja in ukrainischer Tracht, die einen Zweig des gewöhnlichen Schneeballs über ihren Kopf hält. Berehnya, eine Mischung aus der christlichen Muttergottes Maria und einer slawischen Gottheit ist die Beschützerin der Ukraine, die vor allem über die Freiheit und Unabhängigkeit des Landes wacht.

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Menschen haben vor die Fotos von zwei gefallenen Soldaten einen Teddybär gestellt.

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Der anonyme Streetartkünstler Banksy hat auf eine Straßensperre am Maidan zwei Kinder gesprüht, die eine Panzersperre zweckentfremden und darauf wippen. Insgesamt hat der Künstler in Kiew und den Vorten Borodjynka und Irpin fünf Kunstwerke gegen den russischen Angriff und für Frieden geschaffen.

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Unbekannte habe am Maidan-Platz in Kiew Panzersperren mit Blumen bemalt.

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In der den Aposteln Peter und Paul gewidmeten Garnisonskirche von Lwiw, dem früheren Lemberg, sind Fotos hunderter seit dem russischen Überfall auf die Ukraine am 24. Februar 2014 getöteten ukrainischen Soldaten aufgestellt. Die Soldatinnen und Soldaten kamen aus dem Gr0ßraum Lwiws.In der 1630 fertiggesteltlen Barockkirche wird vor allem Mariens gedacht.

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Eine Frau betet in der Garnisonskriche von Lwiw um Frieden. Zu ihrer Rechten sind Gemälde aufgestellt, die die Gottesmutter Maria inmitten der Trümmern durch russische Bomben zerstörte Wohnhäuser aber auch auf dem Schlachtfeld zeigen.

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Ein Küster reinigt Fahnen der ukrainischen Streitkräfte, die seit der Staatsgründung in der Lwiwer Garnisonskriche aufgestellt sind. Eine Kopie der Fahnen von Heer, Luftwaffe, Marine, Spezialkräfte, Luftlandetruppen und der Streitkärfte insgesamt werden in der Kirche aufbewahrt.