Kaktussamen aus der Wilhelma gehen um die Welt

Die Fachleute des zoologisch-botanischen Gartens kümmern sich um 1000 Sorten der wehrhaften Pflanzen. Wir haben zugeschaut.

Kaktusmeer in der Wilhelma: Debora Eberlein (li.) und Eva Augart ernten im Gewächshaus der Wilhelma deren Früchte für den internationalen Samentausch. Kaktusmeer in der Wilhelma: Debora Eberlein (li.) und Eva Augart ernten im Gewächshaus der Wilhelma deren Früchte für den internationalen Samentausch.

© /Lichtgut/Ferdinando Iannone

Kaktusmeer in der Wilhelma: Debora Eberlein (li.) und Eva Augart ernten im Gewächshaus der Wilhelma deren Früchte für den internationalen Samentausch. Kaktusmeer in der Wilhelma: Debora Eberlein (li.) und Eva Augart ernten im Gewächshaus der Wilhelma deren Früchte für den internationalen Samentausch.

Von Iris Frey

Stuttgart - Die Botanikwelt der Wilhelma kann ganz schön stachelig sein. Wer hinter den Kulissen eines der etwa 25 Anzuchthäuser betritt, der darf staunen: Dort stehen sorgfältig in Reih und Glied unzählige Kakteen und Sukkulenten mit langen, kurzen oder gekrümmten Stacheln, in Kugelform oder hochwachsend als Säulen. Einige tragen Blüten, andere haben kleine Stämme und Blätter, und ein paar zieren farbige Früchte. Wo diese wasserspeichernden Pflanzen unter dem Glasdach gedeihen, gibt es trotz der Ruhe, die sie ausstrahlen, jede Menge zu tun für die Gärtner, die hier den Samen für den internationalen Austausch gewinnen.

Im Sommer und Herbst wird geerntet. Aktuell ist Ernte. Mit einer langen Pinzette, einem kleinen, durchsichtigen Plastikschälchen, Papier und Stift ist die Zierpflanzengärtnerin Debora Eberlein beschäftigt, rote längliche kleine Früchte etwa bei den Mammillaria-Kakteen einzusammeln. Jede Sorte bekommt ein extra Schälchen.

Ein paar Kakteen blühen gerade noch. Diese werden mit einem langstieligen, feinen Pinsel bestäubt, damit sie Früchte bilden. Sind die fruchtigen Früchte saftig gewachsen, werden sie geerntet. Am Arbeitstisch werden die Früchte gewässert. Vorsichtig zerquetscht Eberlein mit den Fingern die roten Früchte und öffnet sie, damit die Kerne sichtbar werden, und legt sie ins Wasserschälchen. Dann gießt sie das Wasser vorsichtig ab. Übrig bleiben die schwereren Samen, die teilweise halb so groß sind wie ein Stecknadelkopf. Vorsichtig fängt Eberlein die Samen auf einem Papiertuch auf und streift sie, wenn sie trocken sind, ab. Dabei schüttet sie sie vorsichtig in ein weißes Tütchen. Versehen mit einer speziellen Kennzeichnung kommen sie in den Samenkasten und dann in den Samenschrank, der ameisen- und mäusesicher ist.

Im Gewächshaus bei den Kakteen und Sukkulenten steht die 25-Jährige, die in der Wilhelma ab 2015 ihre Ausbildung gemacht hat und im nächsten Jahr zehn Jahre im zoologisch-botanischen Harten tätig ist, inmitten Hunderter Kakteen unterschiedlichster Form und Art und sagt: „Es macht mir immer noch Spaß.“ Kein Wunder, denn die Arbeit ist erstaunlich vielfältig. Durch das Glasdach des Gewächshauses scheint die Sonne und lässt so manche Kaktusfrucht noch knalliger farbig leuchten – etwa in Rot, Rosa oder Orange. Bald können sie geerntet werden.

„Die Wilhelma hat rund 1000 Kakteen und Herkünfte“, weiß Eva Augart. Die Gartenbauingenieurin ist seit elf Jahren in der Wilhelma tätig und heute die stellvertretende Technische Leiterin des Fachbereichs Botanik mit Schwerpunkt Pflanzenschutz, Ausbildung und Internationalem Samentausch. Besonders wichtig sind dabei Akzessionen: gleiche Sorten von Pflanzen, aber mit einer anderen geografischen Herkunft. Augart zeigt im Samenraum die botanischen Schätze, die von Stuttgart aus bald in alle Welt gehen. Im Rahmen des International Plant Exchange Network (Ipen) werden die Samen kostenlos zwischen den weltweit etwa 300 botanischen Gärten ausgetauscht in Anlehnung an internationale Umweltabkommen für nicht kommerzielle Zwecke, für Forschung, Bildung, Lehre und Artenschutz.

Seit 1992 gibt es das internationale Umweltabkommen über die Biologische Vielfalt, kurz CBD (Convention on Biological Diversity). Es wurde auf dem Umweltgipfel der Vereinten Nationen in Rio de Janeiro von 178 Vertragsstaaten unterschrieben. Fast alle Staaten der Erde sind inzwischen dabei. Ziele sind der Erhalt und die nachhaltige Nutzung der biologischen Vielfalt und die Aufteilung der aus der Nutzung resultierenden Vorteile. Seit 2014 gibt es als Zusatz das Nagoya-Protokoll, das nach Angaben der Bundesanstalt für Landwirtschaft und Ernährung Biopiraterie verhindern soll. An diese Bestimmungen halten sich die botanischen Gärten, die im Rahmen des Ipen-Netzwerks Samen austauschen.

Die Samen aus Stuttgart werden gezielt auf Nachfrage im Winter – in der arbeitsärmeren Zeit – überwiegend ins europäische Ausland verschickt, etwa nach Frankreich, Italien, Spanien, Portugal und Schweden. Aber auch Japan und Ägypten sind Ziele. In den beiden letztgenannten Staaten ist meist ein sogenanntes phytosanitäres Zeugnis notwendig, welches die Gesundheit der Pflanzensamen bescheinigt. Ansonsten seien keine aufwendigen Zertifikate beim Versand in die anderen Länder notwendig, weiß Augart.

In schubladenartigen Kisten sind die unzähligen Samentüten mit genauen Beschilderungen der Sorten aufbewahrt und sortiert. Darunter sind Samen wie beispielsweise Macadamia integrifolia, Krebsaugenbohne (Rynchosia phaseoloides), Helmbohne, die Nutzpflanze Lablab purpureus und die Medizinalpflanze Ricinus communis.

In der Wilhelma wird das Saatgut im Laufe des Jahres in der Gärtnerei gesammelt. Am Ende des Jahres wird eine Liste gemacht, die dann an die beteiligten botanischen Gärten verschickt wird. Aus den Listen wählen die Austauschenden die Samen aus, die sie gerne hätten, und bestellen sie. Auf der Stuttgarter Liste stehen etwa 400 Arten, die angeboten werden. Besonders stark gefragt sind fleischfressende Pflanzen und Kakteen. Hier kann die Wilhelma ein großes Artenspektrum ausweisen. Darunter sind auch tropische Nutzpflanzen, die derzeit hinter dem Maurischen Landhaus gedeihen. Sie sind sehr gefragt, darunter die Guave.

Die Samen werden trocken gelagert. Großvolumiges Saatgut wird wärmer gelagert. Möglich wäre es sogar, auch Saatgut einzufrieren, wenn es klein ist. In der Wilhelma geschieht das nicht. Andere Samen müssen bei einer Temperatur zwischen 8 und 12 Grad gelagert werden. Augart hat noch geernteten Samen vom vergangenen Jahr. „Die meisten halten mindestens zwei bis drei Jahre.“ So hat sie für etwaige Nachbestellungen noch einen Bestand.

Ungefähr 1000 bis 2000 Portionen Samen schickt die Wilhelma jährlich in die Welt und erhält wiederum im Austausch um die 400 Samentütchen. „Die erhaltenen Samen gebe ich sofort in die Reviere. Viele Arten werden dann auch sofort respektive früher im Jahr, Januar bis März, ausgesät. Dies geschieht dann in den Vermehrungseinrichtungen in unseren Warmhäusern“, sagt Augart. Jede Pflanzenart mit den Samen ist mit einer Ipen-Nummer gekennzeichnet. Dabei steht zuerst das Ursprungsland, dann der Artenschutz-Standard. Danach kommt das Kürzel für den botanischen Garten und schließlich eine intern vergebene Nummer. So wird jede Samenart gekennzeichnet – und unter dieser Nummer wird das Saatgut geführt. Inzwischen ist die erste Ernte der Mammillarias geborgen, gewaschen und herausgelöst. Auch von der Mittagsblume, einer Sukkulente, deren Fruchtkapseln sich bei den ersten Wassertropfen öffnen. Zum Samentausch gehört außerdem die Aasblume, bei der Fliegen als Bestäuber dienen, weil die Blüte nach Aas riecht und so die Insekten anlockt. Während sich in der rotbräunlichen Blüte kleine Fliegenlarven tummeln, geht die Ernte in der Wilhelma weiter.

An anderer Stelle stehen Kakteen, die der Zoll beschlagnahmt hat. Einige der Samen, die gesammelt und weltweit getauscht werden, stammen von artenbedrohten Pflanzen. Bei den Kakteen ist es beispielsweise der Turbinicarpus swobodae Diers, der auf der Roten Liste steht. Stetig füllt sich die Samenliste bis zum Winter. Im Frühjahr wird dann ausgesät und geschaut, wie die biologische Vielfalt weiter vermehrt werden kann. Auch in der Wilhelma.

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Erstellt:
9. September 2024, 22:04 Uhr
Aktualisiert:
10. September 2024, 21:59 Uhr

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