Interpol warnt vor organisierter Kriminalität
Kampf gegen globale Mafia droht verloren zu gehen
Zum Ende seiner Amtszeit schlägt der deutsche Interpol-Generalsekretär Alarm. Organisierte Kriminalität wird mächtiger, das Problem mit Kokain wächst. Der Kampf um Reviere beginnt auch in Deutschland.
Von Markus Brauer/Benno Schwinghammer (dpa)
Der scheidende Interpol-Generalsekretär Jürgen Stock schlägt angesichts international operierender Gangs Alarm. „Die Welt läuft Gefahr, den Kampf gegen die transnationale organisierte Kriminalität zu verlieren“, warnt Stock. Das Potenzial dieser Banden, „sogar Industrieländer zu destabilisieren, zum Beispiel auch in Europa, hat ebenfalls beispiellose Ausmaße angenommen“.
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„Astronomische Mengen an Ressourcen“
Der Deutsche Stock wird im November nach zehnjähriger Amtszeit sein Amt als Generalsekretär von Interpol abgeben. Die besten Chancen für seine Nachfolge hat der Brasilianer Valdecy Urquiza. Interpol ist mit 196 Mitgliedsstaaten die weltgrößte Polizeiorganisation und koordiniert internationale Polizeizusammenarbeit.
Stock betonte, dass die internationale kriminalpolizeiliche Organisation klare Erkenntnisse darüber habe, dass sich früher eher regional agierende mafiöse Gruppen mittlerweile auf allen Erdteilen ausgebreitet hätten. „Sie sind zu globalen Verbrechern geworden, sie agieren wie globale Unternehmen“, erklärt der hochrangige Polizist. Dabei verfügten sie über „astronomische Mengen an Ressourcen“, etwa um Menschen- und Waffenhandel voranzutreiben.
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Kokain als besonders großes Problem
Die Haupteinnahmequelle der Banditen sei aber weiterhin der Drogenhandel, der auch in Zentraleuropa, unter anderem in Deutschland, zu einem immer größeren Problem werde. „Wir sprechen über alle Arten von Drogen, die auf den kriminellen Märkten erhältlich sind. Aber derzeit ist Kokain vor allem ein großes Problem“, betont Stock.
Trotz Nachrichten von Rekordfunden von Drogen in den Häfen von Antwerpen, Rotterdam und Hamburg veränderten sich Preis und Angebot auf den Straßen nicht - ein klares Zeichen, dass kein Mangel bestehe. Schätzungen gingen davon aus, dass Drogenfahnder nur etwa 15 bis 20 Prozent aller Einfuhren beschlagnahmten.
Extrem tödliches Fentanyl schleicht sich in Europa ein
Gefährlich sei das unter anderem, weil sich beigemischt in den Drogen immer öfter das synthetische Opioid Fentanyl finde. „Wir können derzeit sehen, dass es sich auch in die europäischen Märkte einschleicht“, erläutert der Interpol-Generalsekretär. Fentanyl ist potenziell gefährlicher als andere Drogen, Experten zufolge wirkt es etwa 50-mal stärker als Heroin. Bereits zwei Milligramm gelten als potenziell tödliche Dosis.
In den USA hat Fentanyl bereits zu einem enormen Drogenproblem mit Zehntausenden Toten geführt. Nach Angaben des nationalen US-Instituts, das Drogenmissbrauch erforscht, starben durch eine Überdosis synthetischer Opioide – vor allem Fentanyl – allein im Jahr 2021 mehr als 70.000 Menschen.
Der Weg des Kokains: Von Südamerika bis zur deutschen Straßenecke
Vor allem das Kokain kommt Stock zufolge nach wie vor von den Kartellen Südamerikas, vor allem in Kolumbien, Peru und Bolivien. Es gelange zum Beispiel im Hafen der ecuadorianischen Stadt Guayaquil auf Schiffe in den Pazifik. „Von da an wird der Markt sehr flexibel“, berichte Stock. Auf verschiedenen Routen gelangt die hochprofitable Droge mit einem hiesigen Straßenverkaufspreis von etwa 70 bis 90 Euro pro Gramm nach Europa.
Eine der Routen führt über das politisch in Teilen zerrüttete Westafrika, von wo Drogen bis nach Nordafrika und damit in die Mittelmeerregion gelangen. Ein großes Problem bei den Häfen auch in Europa ist Stock zufolge dabei das Ausmaß an Korruption, über die sich viele örtliche Polizeichefs beklagten. „Der Zustrom von Drogen lässt sich also nur dadurch erklären, dass die Hafenbehörden und die dort arbeitenden Menschen offensichtlich korrumpiert werden.“
Revierkämpfe auf den letzten Metern zum Konsumenten
Entlang der Route führt das Geschäft mit den Drogen immer wieder zu Gewalt. Doch auch am Ende der illegalen Lieferkette nehmen die Taten zu. Dort, auf der sogenannten letzten Meile, organisierten lokale Banden den Straßenverkauf.
„Weil es so profitabel ist, kämpfen sie auch in dieser Phase um ihr Revier.“ Beispiele seien hier Schweden, Belgien oder die Niederlande. „Aber es gibt auch Berichte aus Deutschland, es gibt Anzeichen dafür, dass dieser Kampf zumindest in Teilen Deutschlands begonnen hat.“
Um der Gefahr durch die Gangs zu begegnen, brauche es noch mehr Zusammenarbeit der nationalen Strafverfolgungsbehörden, sagt Stock. Die Behörden der Länder müssten die zehn bis 15 größten Gruppen gezielt ins Visier nehmen.
Info: Welche Rolle Interpol bei der internationalen Fahndung spielt
Wie läuft eine Fahndung ab? 1923 gegründet, ist Interpol mit 196 Mitgliedstaaten heute die größte Polizeiorganisation der Welt. Wenn ein Mitgliedsland einen Verdächtigen zur Fahndung ausschreiben will, informiert Interpol mit einer „Red Notice“ (rote Notiz oder rote Ausschreibung) und steuert die länderübergreifende Kooperation. Es handelt sich dabei aber nur um ein Gesuch, nicht um einen internationalen Haftbefehl.
BKA 1923 Jedes Land entscheidet selbst, wie es mit dem Fall umgeht und ob eine Auslieferung infrage kommt. Hierzulande prüft das Bundeskriminalamt (BKA), ob eine Fahndung mit deutschem Recht vereinbar ist. Auch Interpol muss Suchaufträge prüfen. Laut Artikel 3 des Interpol-Statuts ist «jede Betätigung oder Mitwirkung in Fragen . . . politischen, militärischen, religiösen oder rassischen Charakters» untersagt. Damit soll verhindert werden, dass die Organisation zur Verfolgung von Regimegegnern missbraucht wird.
Warum kann Interpol nicht selber eingreifen? Die Organisation ist von Regierungen unabhängig und hat keine behördlichen Befugnisse. Interpol will als weltweites Netzwerk zum Kampf gegen das internationale Verbrechen beitragen, erstellt strategische Analysen und unterhält diverse Datenbanken für die Fahndung nach Verdächtigen oder Autos zum Beispiel. Ermittlungen sind aber allein Sache der einzelnen Mitgliedsländer.
Wie ist Interpol organisiert? An der Spitze der Organisation steht ein für vier Jahre ehrenamtlich gewählter Präsident. Lyon in Frankreich ist seit 1989 Hauptsitz des Generalsekretariats. Oberstes Gremium ist die Generalversammlung, bei der sich Delegierte aller Mitgliedsländer einmal im Jahr treffen.