Gesichtsblindheit

Kennen wir uns?

Die Nachbarin auf der Straße nicht erkannt? Solch peinliche Momente hatte wohl jeder schon mal. Für Menschen, die unter Prosopagnosie leiden, sind sie der Normalzustand. Ein pensionierter Hochschullehrer erzählt, wie er damit umgeht.

Lange Haare oder kurze?  Spitzes  Gesicht oder rundliches? Die meisten  speichern solche Informationen unbewusst  ab.  Für Gesichtsblinde  sieht jedes Gesicht gleich oder zumindest  ähnlich aus.

© stock.adobe.com/Lsantilli

Lange Haare oder kurze? Spitzes Gesicht oder rundliches? Die meisten speichern solche Informationen unbewusst ab. Für Gesichtsblinde sieht jedes Gesicht gleich oder zumindest ähnlich aus.

Von Steve Przybilla

Da steht die Frau und lächelt, sicher kennt man sie, nur woher? Viele Menschen haben Probleme, Bekannte auf Anhieb zu erkennen, vor allem bei unverhofften Begegnungen in unerwarteter Umgebung. Doch Ulrich Holzbaur könnte so etwas auch mit seiner Ehefrau oder mit seinen Kindern passieren, zumindest dann, wenn sie neue Kleidung tragen oder ihre Stimmen nicht zu hören sind. Dann fehlen entscheidende Anhaltspunkte.

Holzbaur leidet an Prosopagnosie, im Volksmund: Gesichtsblindheit. Der Begriff ist streng genommen nicht korrekt, weil keine Blindheit vorliegt. Stattdessen können Betroffene Gesichter einfach nicht unterscheiden. Hat jemand lange Haare oder einen Bart? Markante Wangenknochen oder ein rundliches Antlitz? Blaue Augen oder braune? Die meisten Menschen speichern solche Informationen unbewusst ab. Anders bei Gesichtsblinden. Für sie sieht jedes Gesicht gleich oder zumindest ähnlich aus.

Zwei bis drei Prozent der Bevölkerung sind gesichtsblind

Ein Team des Universitätsklinikums Münster hat 2001 berechnet, dass weltweit zwei bis drei Prozent der Bevölkerung an Gesichtsblindheit leiden – also Hunderte Millionen von Menschen. Mit dem „Cambridge Face Memory Test“ gibt es zudem einen wissenschaftlich fundierten Online-Test, der zeigt, ob man gesichtsblind ist. Auch Promis wie Brad Pitt oder die schwedische Kronprinzessin Victoria sind betroffen. Trotzdem ist das Phänomen außerhalb von Fachkreisen kaum bekannt. Was den Leidensdruck vieler Betroffener noch erhöht, weil sie nicht wissen, wo das Problem liegt.

Ulrich Holzbaur erkennt vertraute Menschen anhand ihrer Gestik, ihrer Stimme, ihres Ganges. Oder auch nicht. Schwierig wird es, wenn er viele Bekannte auf einmal trifft. Etwa bei einer Nachhaltigkeitskonferenz in Stuttgart, auf die sich Holzbaur schon lange gefreut hat. Der pensionierte Professor, Schwerpunkt Nachhaltigkeit und Projektmanagement, gönnt sich an einem Stehtisch eine Limo. Bei der Veranstaltung dreht sich alles um Streuobstwiesen, Waldwirtschaft, Wildkatzen – Themen, für die sich der 69-Jährige interessiert. Wäre da nicht die Sorge, die Menschen wie ihn bei solchen Anlässen umtreibt: Hoffentlich geht alles gut.

In der Mittagspause strömen die Teilnehmenden ins Foyer. „Die Rede des Staatssekretärs hat mir gefallen“, sagt Holzbaur. „Eigentlich müsste ich jetzt die Gelegenheit nutzen, um ein paar Worte mit ihm zu wechseln. Aber keine Chance. Zu wem würde ich denn hingehen?“ Wie soll er den Politiker unter all den Anzugträgern erkennen? Ein buntes Kleidungsstück oder eine knallige Brille würden als Signal genügen. Aber bei all dem Grau-in-Grau wird’s schwierig.

Allein herumstehen muss der Professor trotzdem nicht. Nach wenigen Minuten stürmt ein Mann mit ausgestreckter Hand auf ihn zu – so schnell, dass Holzbaur kaum Zeit bleibt, aufs Namensschild zu achten. Während er noch zögert, legt sein Gesprächspartner los: „Wir kennen uns, wir sind sogar per Du.“ Holzbaur lächelt verlegen, dann antwortet er: „Mit Gesichtern hab‘ ich echt Schwierigkeiten.“ Sein Gegenüber, das nichts von der Gesichtsblindheit weiß, reagiert locker: „Dafür habe ich immer Probleme mit Namen.“ Holzbaur ist erleichtert.

Situationen wie diese kennt er seit seiner Kindheit. „In der Grundschule sollten wir unsere Eltern zeichnen“, erzählt Holzbaur. „Ich konnte das nicht. Ich hatte ihre Gesichter einfach nicht vor Augen.“ Seine Eltern denken sich nichts dabei, selbst als er bei Familienfeiern die Verwandten nicht erkennt.

Holzbaurs Problem wächst sich nicht aus. Auch als Erwachsener kommt es zu solchen Erlebnissen. Mal geht er an der Hockeytrainerin seiner Kinder vorbei, ein anderes Mal steht er ahnungslos neben dem Chef einer Bank, mit dem er kurz vorher zu tun hatte: „Als er dann sagte: ,Sie wissen gar nicht wer ich bin, oder?‘, war mir das peinlich.“

Sie sehen alles, nur das (Wieder-)Erkennen funktioniert nicht

Immerhin weiß er jetzt, dass es so was wie Prosopagnosie gibt. „Vor 15 Jahren habe ich durch Zufall einen wissenschaftlichen Artikel darüber gelesen. Plötzlich ergab alles Sinn.“ Zwar wusste er schon vorher, wie schwer ihm das Erkennen von Personen fällt. Dass er Gesichter aber anders sieht als die meisten, war ihm nicht klar. „Wie auch? Man weiß ja nicht, wie andere Menschen ihre Umgebung wahrnehmen.“

Obendrein wird Prosopagnosie weder als Krankheit noch als Behinderung anerkannt. „Wir müssen auch aufpassen, nicht von ,Gesunden‘ und im Umkehrschluss von ,Kranken‘ zu sprechen“, sagt Claus-Christian Carbon, Psychologieprofessor an der Universität Bamberg, der sich seit über 20 Jahren mit Prosopagnosie befasst: „Das Wichtigste ist zu verstehen, dass Gesichtsblindheit keine Blindheit ist, sondern dass Gesichter als solche durchaus erkannt werden.“ Auch Alter, Geschlechtsmerkmale und Emotionen seien kein Problem. Nur: Das (Wieder-)Erkennen funktioniere nicht.

Warum das so ist, wird inzwischen intensiv erforscht. Vieles ist noch unklar, etwa inwieweit genetische Faktoren eine Rolle spielen. Was feststeht: Es handelt sich um ein neurologisches Phänomen. Claus-Christian Carbon kann dies nachweisen. Er befestigt Elektroden am Kopf der Testpersonen (EEG) und durchleuchtet ihr Gehirn mit einem Magnetoenzephalographen (MEG). Dabei zeigen Gesichtsblinde eine verringerte Aktivität in den Gehirn-Arealen, die für die Gesichtserkennung zuständig sind.

„Ein Mensch, der von Prosopagnosie betroffen ist, nimmt die Umwelt kaum anders wahr“, weiß Carbon, „solange sie keine Gesichter beinhaltet.“ Über Hilfsmittel wie die Kleidung können Gesichtsblinde ihre Bekannten durchaus identifizieren. „Ich sehe alles“, betont auch Ulrich Holzbaur, während er am Stehtisch auf weitere Begegnungen wartet. „Aber wenn ich die Augen zumache, kann ich die Gesichter nicht mit meiner Umgebung abgleichen.“ Auch das Fernsehen fällt ihm schwer. Den „Tatort“ schaut er nur, wenn seine Frau danebensitzt und ihm hilft, die Charaktere zuzuordnen.

Um Missverständnisse zu vermeiden, geht er offen damit um

Auf der Straße hat er diese Hilfe nicht. Holzbaur weiß nicht, wie oft ihn Arbeitskolleginnen oder Nachbarn für unfreundlich halten, wenn er ahnungslos an ihnen vorbeigeht. Um solche Missverständnisse zu vermeiden, hat er beschlossen, offen mit seiner Gesichtsblindheit umzugehen. Auch seinen Studierenden erzählt er davon. „Anfangs hatte ich die Sorge, dass sich bei Prüfungen jemand für jemand anderen ausgibt“, sagt er. „Aber das ist zum Glück nicht passiert.“ Er lacht. „Jedenfalls nicht, dass ich wüsste.“

Gesichtsblindheit kommt in unterschiedlichen Ausprägungen vor. Es gibt leichte Fälle: Personen, die Bekannte nicht immer zuordnen können. Aber auch extreme Variante: „In Facebook-Gruppen erzählen manche, dass sie ihre eigene Frau nicht erkennen oder das falsche Kind aus der Schule abholen“, weiß Holzbaur. Bei ihm selbst sei das noch nie vorgekommen. Wäre eine solche Verwechslung aber theoretisch möglich? „Auf einem vollen Marktplatz vielleicht“, räumt Holzbaur ein. „Oder wenn sie andere Kleidung tragen als sonst.“ Er kenne natürlich die Stimme und das Verhalten seiner Kinder.

Der Dokumentarfilm „Lost in Face“ von 2020 porträtiert eine Frau, die sich nicht mal selbst erkennt. Beim Blick in den Spiegel sagt sie: „Die Frau trägt mein Nachthemd. Also muss ich es sein.“ – „So extrem ist es bei mir nicht“, sagt Holzbaur. „Aber manchmal sage ich im Spaß zu meinem Spiegelbild: „Ich kenn dich nicht, aber rasier dich trotzdem.‘“

Dafür konnte er während der Pandemie endlich mal durchatmen. Während andere über endlose Videokonferenzen klagten, kam er kein einziges Mal in Verlegenheit. Wie auch – die Namen der Konferenzteilnehmer wurden ja stets eingeblendet.

Zum Artikel

Erstellt:
8. März 2025, 12:06 Uhr

Artikel empfehlen

Artikel Aktionen

Lesen Sie jetzt!